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Musik an sich
 
Ludwig van Beethoven: Streichquartette op. 127 und 132 / Leipziger Streichquartett
(Deutsche Grammophon)
Barock
 

Gidon Saks, Anne Sofie von Otter, Richard Croft, Lynne Dawson, David Daniels, Marcos Pujol - Chor und Orchester 'Les Musiciens du Louvre' - Marc Minkowski

"Jealousy! Infernal pest" intoniert der Chor. "Eifersucht, o Höllenfluch", übersetzt das Booklet angemessen. Kein Zweifel: Es geht um das Thema Nr. 1 bzw. seine mitunter tragischen Nebenwirkungen. Kombiniere: Wir sind in der Oper. Oder? Was Händel seinem Londoner Publikum 1745 unter der Bezeichnung "A New Musical Drama" annoncierte, kann man wohl als ein klassisches Crossover aus Oratorium und Oper bezeichnen. Ein weiteres Experiment des Komponisten, nachdem er aufgehört hatte, italienische Opern für ein zunehmend desinteressiertes Publikum zu komponieren. Und trotzdem - leider - ein veritabler Flop, der nach wenigen Aufführungen abgesetzt wurde. Das mag zum einen an den ungünstigen Aufführungsbedingungen (Ausfall einer Sängerin wegen Krankheit), noch mehr aber an der eigentümlichen Mischform gelegen haben: Da-Capo-Arien wie in der italienischen Oper - aber keine Kastraten. Dafür Chöre - wie im Oratorium. Verhandelt wird aber kein religiöses, sondern ein weltliches Thema.

Doch können weder das geschickte Libretto noch die reiche Musik, die Händel in gewohnter Mühelosigkeit innerhalb weniger Wochen aufs Papier brachte, für den Mißerfolg verantwortlich gemacht werden. Der Ton ist noch nicht so abgeklärt wie bei den späteren Oratorien: Es gibt reichlich halsbrecherische Koloraturen und für die Sänger Gelegenheit zu improvisierten Verzierungen. Dennoch überwiegt in den meisten Arien ein eher lyrischer Ausdruck. Diese sind zudem ‚rezitativischer', das heißt: in einem sprachähnlicheren Duktus vertont als in Händels italienischen Opern. Erstaunlich ist dabei die Ökonomie der Mittel: Händel benötigt nur wenige, aber eingängige musikalischen Gesten, um die Empfindungen seiner Figuren auf den Punkt zu bringen. Die oft luzide Instrumentalbegleitung schafft eine große Intimität und garantiert ein Höchstmaß an Textverständlichkeit.

Das exemplarische Eifersuchtsdrama, das sich hier in mythologischer Maskierung zwischen Hercules und seiner Ehefrau Dejanira abspielt, inspirierte den Komponisten zu einem seiner faszinierendsten Frauenporträts: Wie sich Dejanira von einer sehnsuchtsvoll Liebenden in eine von Mißtrauen, Verzweiflung und Haß getriebene Frau verwandelt, die an ihrer Eifersucht und deren ungewollt tödlichen Konsequenzen schließlich irre wird, ist hier in großartige, hochdramatische Musik gegossen. Die abschließende Wahnsinnsszene "Where shall I fly" hat auch bei Händel kaum Vergleichbares. Aber nicht nur hier werden die stereotypen Wendungen der barocken Affekt-Maschinerie so auf die Spitze getrieben, daß der Mensch dahinter sichtbar wird.

An der Spitze eines hervorragenden Sängerteams gelingt es Anne Sofie von Otter in ihrer überwältigenden Interpretation, die unterschiedlichen Seelenzustände Dejaniras offenzulegen und den Hörer in das innere wie äußere Drama dieser Figur hineinzuziehen. In der virtuosen, klangfarblich und dynamisch bis aufs äußerste geschärften Drastik dürfte ihre Version der Wahnsinnsszene in der Diskographie dieses Werkes ohne Parallele sein. Ihr zur Seite steht mit Gidon Saks ein machohafter Hercules, dessen kaum weniger beeindruckender Todeskampf eine ebenso exemplarische Darstellung erfährt. Auf gleichem interpretatorischen und stimmlichen Niveau bewegen sich die übrigen Sängerinnen und Sänger, wobei insbesondere die jugendliche Leichtigkeit von Richard Crofts Tenor und die anrührende Gestaltung von Lynne Dawson bestechen. Auch angesichts des fabelhaft agierenden Chores ist kaum zu glauben, daß es sich um einen Live-Mittschnitt handelt, wäre da nicht die stets spürbare Spannung, die selbst in den trügerisch-ruhigen Momenten die Musik vorantreibt.

Nachdem sie 1998 eine aufregende, ausgesprochen moderne Interpretation von Händels später Oper 'Ariodante' vorgelegt haben, ist 'Hercules' das zweite dramatische Werk, das Von Otter, Dawson und Croft zusammen mit Marc Minkowski und den 'Les Musiciens du Louvre' für die Archiv-Produktion der DG realisiert haben. Die 'Neuen' im 'Team', David Daniels, Saks und, in einer Nebenrolle, Marcos Pujol, fügen sich da bruchlos ein, wenn auch Daniels sehr klangschönem und kraftvollem männlichen Mezzosopran nicht die gleiche Palette an Farben und Ausdruckmöglichkeiten wie seinen Kollegen zur Verfügung steht. Insgesamt überzeugen die hohe musikalische Qualität und das spürbare Engagement aller Beteiligten, wobei die spieltechnische Perfektion des groß besetzten Orchesters eine Klasse für sich ist. Durch eine subtile Regie von Klangfarben, Phrasierung und Artikulation werden die Emotionen und 'szenischen' Effekte stets aus der Musik heraus entwickelt. Dabei treibt der Dirigent sein Ensemble mitunter in Extremzustände von Dynamik und Tempo, dies freilich immer mit sicherem dramatischen Instinkt. Insgesamt wirkt die neue Aufnahme dabei nicht so 'hemdsärmelig' und dafür musikalisch ausgereifter als diejenige von 'Ariodante'. Es ist bedauerlich, das angesichts dieser Leistung die geplante Aufnahme von Händels 'Julius Caesar' wegen Differenzen mit der Plattenfirma über die Besetzung der Rollen nicht zustande gekommen ist.

Reinhören kann man in die Produktion bei http://amazon.fr.

Repertoire: 5 Punkte (im Gegensatz zur älteren Einspielung von J. E. Gardiner bietet Minkowski das Werk ungekürzt)
Klang: 5 Punkte (natürlich und präsent, trotz Live-Aufnahme praktisch keine Nebengeräusche)
Interpretation: 5 Punkte (mit Mut zum Risiko und Lust an Extremen)
Präsentation: 5 Punkte (dreisprachiges Booklet)

Gesamt: 20 Punkte

Georg Henkel

 

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