Musik an sich


Reviews
Brahms, J. (Melnikov)

Klaviersonaten Nr. 1 & 2 - Scherzo


Info
Musikrichtung: Romantik Klavier

VÖ: 18.02.2011

(Harmonia Mundi / Harmonia Mundi / CD / DDD / 2010 / Best. Nr. HMC 902086)

Gesamtspielzeit: 69:23



BLÜHENDE ROMANTISCHE FANTASIE

Wüsste man nicht, dass Alexander Melnikov hier einen Bösendorfer-Flügel aus dem Jahre 1875 traktiert, man könnte das Instrument fast, nun ja, für ein Barpiano halten. Der direkte, trockene, wie mit Messingfarben überzogene Klang und die ausgeprägte Persönlichkeit der leichten tiefen, schlanken mittleren und funkelnden hohen Register verleihen der Einspielung von Johannes Brahms 1. und 2. Klaviersonate sowie seines Scherzos op. 4 eine besondere Atmosphäre.

Melnikovs Interpretation der 2. Sonate eröffnet das Programm und ist exemplarisch für diese CD. Die Einspielung bekommt auch durch das forsche Tempo, mit dem der Interpret den Eröffnungssatz angeht, fast etwas vom Sturm und Drang einer vergangenen Epoche mit auf den Weg (man hört den damals erst 19jährigen Komponisten heraus ...). Dabei geht es Melnikov gar nicht darum, Brahms eigenes Klavierspiel, über das zudem sehr unterschiedliche, auch widersprüchliche Berichte erhalten sind, zu rekonstruieren. Das Rubato, mit dem der Interpret die lyrische Seite der Musik herausarbeitet, ist ganz und gar seine eigene musikalische Entscheidung. Und auch das gar nicht so einfach zu spielende Instrument verlangt individuelle interpretatorische Entscheidungen; z. B. arpeggiert Melnikov viele Akkorde, wohl auch, um den Gesamtklang aufzulichten. Die Schärfen mancher Sforzatos werden nicht unterschlagen, bekommen durch Melnikows hörbaren Atem aber noch einen Extra-Akzent.
Das grüblerische Andante besitzt vor allem in der Höhe etwas Irreales, Nebelhaftes; die Tiefen sorgen hier für Schatteneffekte, während den mittleren Registern die Figuren im „Vordergrund“ zugewiesen sind: in seiner virtuellen Räumlichkeit ist das fast schon ein Bühneneffekt. Wie ein launiger Spuk präsentiert sich das Scherzo; darin das Trio zunächst ganz entrückt, dann mit immer hymnischerem Schwung. Auf seinem Bösendorfer zieht Melnikov gleichsam alle orchstralen Register, um diese Kontraste entsprechend auszuleuchten. Das vielgliedrige Finale vereinigt die Qualitäten der vorhergehenden Sätze. Hier spielt Melnikov das geforderte Rubato, also die willkürliche, aber ausgewogene Verkürzung oder Verlängerung der Töne, spannungsvoll aus.

Die Komplexität und Virtuosität des irrlichternden Scherzo op. 4 wird bei Melnikov zur Brücke, die die 2. mit der 1. Sonate verbindet. Hier ergeben sich durch den gewichtigen umfangreichen Kopfsatz und den knapper formulierten Folgesätzen gewissermaßen umgekehrte Proportionen zur 2. Dem optimistisch auftrumpfenden Beginn folgt ein wehmütiger Innehalt, den Melnikov mit luziden „Tontropfen“ gestaltet, bevor der Ausdruck sich dramatisch steigert. Doch wirkt der Klang auch im vollgriffigen Satz niemals dick. Fast schubertartig verhangen dann das Andante über ein altdeutsches Minnelied. Ein brillantes Scherzo leitet über zum Finale. Doch selbst bei übermütiger repetitiver Attacke wahrt der Flügel in beiden Fällen eine gewisse Zurückhaltung. Weder blenden die Spitzentöne noch erzeugen die tiefen Klänge Mulmigkeit; dennoch wirkt der Sound nicht topfig.

Obwohl Melnikovs Spiel nie überzogen wirkt, artikuliert er doch überzeugend die romantische Fantasie, ja „Maßlosigkeit“ des jungen Brahms, dessen Ideenreichtum auf dem faszinierenden 1875er-Bösendorfer wieder in vielleicht nicht Steinway-mäßig üppigen, dafür aber sehr differenzierten Klangfarben erblühen kann. Gerade dadurch wirkt die Musik frisch.



Georg Henkel



Besetzung

Alexander Melnikov: Klavier (Bösendorfer, 1875)


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