Musik an sich


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Stravinsky, I. (Ono)

The Rake`s Progress


Info
Musikrichtung: Klassische Moderne Oper

VÖ: 18.01.2008

Opus Arte / Naxos 2 DVD (AD live 2007) / Best. Nr. OA 0991D

Gesamtspielzeit: 174:00



OPERNMASCHINE, GUT GEÖLT

Oper = Emotionen pur. Ausnahmen bestätigen die Regel. Z. B. Igor Stravinskys The Rake´s Progress, die 1951 im La Fenice in Venedig uraufgeführt wurde. Der Komponist, für den die traditionelle Gattung längst am Ende und ein für alle Mal auskomponiert war, schrieb nämlich eine Meta-Oper, eine Oper über die Oper, mit all ihren Tricks und Ticks.
Stravinskys Inspirationsquelle und Aufhänger für das Libretto von W. H. Auden und Chester Kallman war der satirische Bilderzyklus vom „Leben eines Wüstlings“ von William Hogarth aus dem 18. Jahrhundert. Daraus wurde die Geschichte des Tom Rakewell destilliert, der, verführt von seinem dämonischen alter Ego Nick Shadow, seine herzallerliebste Anne Truelove sitzen lässt und in London eine Karriere als reicher Bordellhase, exzentrischer Bankrotteur und schlussendlich Insasse der Irrenanstalt von Bedlam macht.
Wie schon das Hogarthsche Original ist auch der Plot von The Rake`s Progress von vornherein auf Stilisierung angelegt. Der Komponist wollte ausdrücklich ein Werk schreiben, das sich der Einfühlungsästhetik à la Wagner verweigerte. Gefühle gibt es da gleichsam nur gefriergetrocknet. Stravinsky geht dazu auf die Oper des 18. Jahrhunderts zurück, bedient sich der alten Formen und Formeln, allerdings stark verfremdet. Alles tönt vertraut und schräg zugleich. Pseudotonal klingt die Musik, pseudoemotional ist die Wirkung. Man beobachtet die zum Teil grotesken Figuren, die sich in abenteuerliche und manchmal schlicht unglaubwürdige (typisch Oper!) Ereignisse verstricken. Das unterhält, kitzelt das Ohr mit ungewöhnlichen Klängen, wahrt aber auch Distanz.
Bis auf den Schluss. Denn in der Irrenanstalt von Bedlam, wo der um den Verstand gebrachte Tom seine Anne zum letzten Mal sieht – ohne sie zu erkennen – und die Geisteskranken durch Annes betörenden, tröstlichen Gesang für einen Moment aus ihrem Wahn erlöst werden, werden die spröden Klänge plötzlich ergreifend. Gerade in ihrer Fremdheit verleihen sie der Szene eine intime und zugleich entrückte Stimmung. Und plötzlich ist man – beinahe – doch noch mit dem Gefühl ins Geschehen verwickelt.
Dies kann vor allem dann geschehen, wenn die Musik so berückend musiziert und gesungen wird, wie in dieser Produktion aus der Brüsseler Oper La Monaie – De Munt. Dirigent Kazushi Ono leuchtet den transparenten und meist kammermusikalischen Satz nuanciert aus. In jedem Moment überzeugen Laura Lacombe, Andrew Kennedy und William Shimmell in den Hauptrollen durch ausdrucksvollen, klangschönen Gesang. Einprägsam auch die androgyn timbrierte Dagmar Peckova als damenbärtige Türken-Baba.
Regisseur Robert Lepage verlegt das Geschehen von London in die Las-Vegas- und TV-Welt der 1950er Jahre. Das gelingt ohne größere Brüche, überzeugt durch raffinierte Technik und sehr ästhetische, illusionistische Bilder. Abgesehen davon wirkt die hochglänzende Inszenierung in keinem Moment weniger „künstlich“ als die Musik: Eine gut geölte Opernmaschine. So gesehen eine stimmige Visualisierung von Stravinskys geistreichem musikalischen Bilderbogen.



Georg Henkel



Trackliste
Extras: Synopse, Künstlerbiographien, Interviews
Besetzung

Laura Claycomb – Anne Truelove
Andrew Kennedy – Tom Rakewell
William Shimell – Nick Shadow
Dagmar Peckova – Türkenbaba
u. a.

Orchester und Chor von La Monnaie – Le Munt, Brüssel

Ltg.: Kazushi Ono

Regie: Robert Lepage


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