Musik an sich


Reviews
Binchois, G. (Schmelzer)

Joye. Les plaintes de Gilles de Bins dit Binchois († 1460)


Info
Musikrichtung: Renaissance Ensemble

VÖ: 01.02.2007

Glossa / Note 1
CD (AD DDD 2006) / Best. Nr. GCD P32102


Gesamtspielzeit: 73:21



RENAISSANCE BLUES

Beim ersten Hinhören wirkt diese zweite Produktion des belgischen Ensembles Graindelavoix weniger radikal als der Erstling mit Johannes Ockeghems Missa caput.
Dort nämlich hatten die Sänger den ausgefeilten Notentext mit Hilfe der unorthodoxen Verzierungspraxis der Pariser Machicotage in wahrhaft unerhörte Klänge umgesetzt. Das Exotische, Raue und Ungezähmte der Machicotage, das die Polyphonie Ockeghems wie von einem anderen Planeten erscheinen ließ, ist bei den weltlichen rondeaux und einer ballade des 1460 gestorbenen burgundischen Komponisten Gilles Binchois zugunsten einer delikaten Verzierungspraxis zurückgenommen, die sich auf Augenhöhe mit der elaborierten Miniaturenmalerei der Epoche befindet. Allein die aparte kehlig-nasale Färbung der Sopranstimme von Silvie Moors erinnert an das Klangideal des Vorgängerprojekts.

Glaubt man dem Leiter des Ensembles, Bariton Björn Schmelzer, dann wurden die Ornamente zwar auf der Grundlage zeitgenössischer Quellen und Traktate erarbeitet, bei der Aufführung von den Sänger/innen allerdings immer ganz spontan improvisiert.
Die ausgesprochen reiche vokale und instrumentale Kolorierung der Stimmen benötigt Zeit und Raum. Ein relativ langsames Grundtempo ist für viele Stücke in dieser Interpretation kennzeichnend. Es korrespondiert den vertonten Texten, die sämtlich von unerfüllter Liebe sprechen.
Trotz der manchmal traumwandlerischen Ruhe gelingt es den Ausführenden, eine konstant hohe Spannung zu erzeugen. Dazu gibt es auch immer wieder viel Neues und Schönes zu entdecken, z. B. die betörende Mischung von Stimm- und Instrumentalfarben, die interessante Kombination unterschiedlicher Timbres, die Heterophonie der mit- und gegeneinander laufenden Verzierungen oder die frei entwickelten instrumentalen Interludien.
Im Fall von Adieu, jusque je vous revoye klingt mir das alles fast schon zu modisch-schön, so als wär’s ein modernes Crossoverprojekt zwischen Mittelalter und Pop. Das Ensemble entdeckt den Blues in der Renaissance. Immer auch ist die Neu(er)findung der musikalischen Vergangenheit eine Projektion unserer eigenen Gegenwart und ihrer ästhetischen Sehnsüchte. Aufs Ganze gesehen gelingt Graindelavoix dabei ein fantasievoller Brückenschlag, der jedem Stück ein unverkennbares Gesicht verleiht. Wie oft vermag man bei anderen Produktionen mit derlei Repertoire das erste Stück kaum noch vom letzten zu unterscheiden, so ätherisch, aber eben auch unverbindlich perfekt und glatt klingt da alles. Akkurater Schöngesang allein genügt eben nicht.

Der sehr reflektierte, wissenschaftlich fundierte Essay von Björn Schmelzer trägt nicht wenig zur Faszination dieser Zeitreise bei. Leider wird sich der deutschsprachige Hörer in der Regel mit der englischen Version begnügen müssen. Das Libretto gibt es nur im Original.



Georg Henkel



Trackliste
Adieu mes tres belles amours 6:24
Amoureux suy 4:36
Je ne pouroye estre joyeux 5:24
Se la belle n’a voloir 3:57
Qui veut mesdire 4:17
Mon seul et souverain désir 5:53
Les tres doulx yeux 2:59
Adieu, jusque je vous revoye 8:22
Tant plus ayme 5:01
Esclave puist yl devenir 6:45
Adieu mon amoureuse joye 7:00
Ockeghem: Déploration sur la mort de Binchois 12:43
Besetzung

Gesang: Patrizia Hardt, Silvie Moors, Yves van Handenhove, Paul De Troyer, Lieven Gouwy, Bart Meynckens, Björn Schmelzer
Instrumente: Thomas Baeté, Liam Fennelly (Fidel), William Taylor (Harfe), Jan Van Outryve (Laute)



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