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Musik an sich
 
Bachs Matthäuspassion - Das Werk und seine Interpretation
 

Johann Sebastian Bach

Passion: Leiden und Leidenschaft

Eine Aufführung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach (1685-1750) ergriff den jungen Bertold Brecht derart, dass er ernstlich um seine Gesundheit fürchtete. Noch 1944, im amerikanischen Exil, erinnerte er sich daran, dass er den "Stupor" [= Erstarrung] verabscheut habe, in den man da verfallen sei, "dieses wilde Koma", von dem er glaubte, dass es seinem Herzen schaden könne.
Eine solch intensives, höchst ambivalentes Erleben von Bachs Musik mag heute, da das Werk sowohl als ein Gipfelpunkt der abendländischen Musikgeschichte wie auch im Konzertsaal unverrückbar fest etabliert und - dementsprechend - auch discographisch in zahllosen Einspielungen, dokumentiert ist, verwundern. Ist denn diese Musik nicht vor allem anderen ... schön? Tröstlich? Ergreifend? Fromm?
Doch abseits eines eher kulinarischen Konsums von Bachs Musik und der Abschleifung ihrer Ecken und Kanten durch Aufführungstradition und Gewöhnung, zeugt Brechts Äußerung von ihrem Potential, den Hörer nicht nur psychologisch, sondern geradezu physisch in seiner Existenz zu erschüttern und zu beunruhigen. Diese Musik lässt sich nicht einfach vereinnahmen - sie fordert ihren Hörer.

200 Jahre zuvor scheinen Bachs Zeitgenossen das kaum anders empfunden zu haben:
"Als in einer vornehmen Stadt diese Paßions-Music mit 12 Violinen, vielen Hautbois [Oboen], Fagots und anderen Instrumenten mehr, zum erstenmal gemacht ward, erstaunten viele Leute darüber und wußten nicht, was sie daraus machen sollten. Auf einer Adelichen Kirch-Stube [Empore] waren viele Hohe Ministri und Adeliche Damen beysammen, die das erste Passions-Lied aus ihren Büchern mit großer Devotion sungen: Als nun diese theatralische Music angieng, so geriethen alle diese Personen in die größte Verwunderung, sahen einander an und sagten: Was soll daraus werden? Eine alte Adeliche Wittwe sagte: "Behüte Gott, ihr Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera-Komödie wäre." - Aber alle hatten ein Mißfallen daran und führten gerechte Klage darüber."

So zu lesen in Christian Gerbers "Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen" aus dem Jahr 1732; Mit despektierlichem Unterton äußert der Autor an anderer Stelle: "Es gibt aber freilich auch solche Gemüter, die an solchem eitlem Wesen ein Wohlgefallen haben, zumal wenn ihr Temprament sanguinisch [= leicht erregbar] und zur Wollust geneigt ist." Erregung und Wollust! So reizvoll die Vorstellung rezeptionsgeschichtlich auch sein mag: Dass Gerbers Spitze tatsächlich gegen Bachs Matthäuspassion gerichtet war, ist eher unwahrscheinlich. Als O-Ton der Zeit ist sie für die konservative Erwartungshaltung der damaligen Kirchgänger aber durchaus repräsentativ. Was da geboten wurde, befremdete die Zuhörer, weil es nicht den Vorstellungen von einer schlichten, andächtigen Musik entsprach, sondern Assoziationen an theatralische Opernmusik weckte! Die Passion Christi aber als eine Geschichte von Leiden und Leidenschaft zu präsentieren, ja als musikalisches Drama, das starke Leidenschaften - welcher Art auch immer - zu wecken vermochte, ging eindeutig zu weit. Ganz offensichtlich hatte der ungenannte Komponist sein Thema verfehlt ...

Thomaskirche

Summe barocker Musik

Erstmalig wurde Bachs Matthäuspassion während des nachmittäglichen Vespergottesdienstes am Karfreitag des Jahres 1727 in der Thomaskirche der Stadt Leipzig aufgeführt. Dort kannte man schon seit 1717 Passions-Oratorien mit Chorgesang, Soli und Instrumentalbegleitung. Die Tradition, am Karfreitag die Passion nach einem der vier Evangelientexte mit verteilten Rollen zu singen, ist allerdings noch viel älter. Sie hat ihren Ursprung in der altrömischen (katholischen) Liturgie, wurde aber auch von den Lutheranern gepflegt, wo sie eine bedeutende Weiterenwicklung zur oratorischen Passion erfuhr: unter Einsatz von Instrumenten, mit dem solistischen, begleiteten Sprechgesang (Rezitativ) für den "Erzähler" (Evangelisten) und die Hauptpersonen (Christus, Pilatus), mit Chören (für die Choräle und die "Volksmenge") und zahlreichen Arien, die formal der italienischen Barockoper entlehnt waren und in denen die einzelnen Stationen des Leidens Christi betrachtet wurden. Bach vertonte die Arie der Matthäuspassion auf einen Text des unter dem Pseudonym Picander bekannten Dichters Christian Friedrich Henrici, mit dem er dafür eng zusammenarbeitete. Die pathetische Sprache und barocke, sehr leibhaftige Bildgewalt mögen uns heute befremden, boten dem Komponisten damals aber gerade in ihrem Facettenreichtum genau die passende Vorlage.
Während die affektbetonten Arien für die Zuhörer als subjektive "Emotions"- und "Identifikations-Brücken" fungierten, dabei das Geschehen kommentierten und für die Hörer in die Gegenwart hineinholten, stellten die Gemeindechoräle mit ihren eingängigen, allgemein bekannten Melodien den Bezug zur "objektiven" Liturgie her. Darüber hinaus boten die Szenen zwischen Pilatus, Jesus und der Volksmenge Gelegenheit zur dramatischen, quasi-szenischen Ausgestaltung.

Für einen erfindungsreichen Komponisten wie Bach bot sich also eine breite Palette an musikalischen Möglichkeiten. Sein Dienstvertrag lautete diesbezüglich eindeutig: Die Musik sollte so eingerichtet werden, dass sie nicht zu lang dauere und "nicht zu opernhafftig herauskomme", vielmehr die Zuhörer zur Andacht ermuntere. Nicht Originalität war gefragt, sondern solides Handwerk, eben gediegene Gebrauchsmusik für den Gottesdienst. Keinesfalls aber sollte die Musik zu gelehrt und sinnlich daherkommen, Ausführende und Hörer überfordern, diese gar um ihre Andacht bringen und gegenüber den vertonten Texten in den Vordergrund treten.

Solche Einschränkungen aber vertrugen sich nicht mit Bachs Vorstellungen von einer "regulirten kirchen music", die er - sozusagen in Übererfüllung seines Amtes - in beeindruckender Menge und Qualität verfasste. Bach war sich über die Aufgabe der gottesdienstlichen Musik als einer "Diener der Theologie" sehr wohl bewusst; die Widmung "Soli Deo Gloria" ("Dem Höchsten Gott allein zu Ehren") über zahlreichen, auch "profanen" Partituren ist dabei allerdings ebenso wenig eine Floskel wie seine Ansicht, dass der höchste Endzweck der Musik die "Ergötzung" und "Rekreation des Gemüts" sei. Denn - so notierte er in seiner persönlichen Bibel - "bey einer andächtig Musig ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart".

Der besonderen Qualität seiner Matthäuspassion war sich der Komponist sehr wohl bewusst. 1736 fertigte er eine prächtige Reinschrift der Matthäuspassion an, in der der Text des Evangeliums mit roter Tinte hervorgehoben ist; in seiner Familie hieß sie schlicht "die Große Passion". Alles daran muss für die Zeitgenossen ungewöhnlich gewesen sein: schon ihr bloßer Umfang (moderne Aufführungen benötigen zwischen zweieinhalb und drei Stunden, zu Bachs Zeiten kam in zwischen dem ersten und zweiten Teil noch eine einstündige Predigt hinzu!) und erst recht die aufwändige Besetzung mit zwei Chören und Orchestern übertrafen alles, was damals üblich war.
Doch nicht nur der quantitative Aufwand unterstrich den Anspruch des Komponisten. Auch die Verbindung der unterschiedlichsten musikalischen Gattungen war in dieser Dichte und Qualität ungewöhnlich. So war aus dem üblichen schlichten Eingangschor über die Worte "Das Leiden unseres Herren Jesus Christus nach Matthäus" ein kontrapunktisch dicht gearbeiteter Doppelchor geworden, in der sich die beiden Ensembles in erregten Frage-Antwort-Rufen ergingen ("Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen, sehet - wen? - den Bräutigam, seht ihn - wie? - als wie ein Lamm!") zu denen schließlich noch der Choral "O Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet" hinzutrat. Kein Wunder, dass die Hörer hier nicht mehr folgen konnten, zumal es andernorts durchaus üblich war, die Choräle mitzusingen. Doch weder hier noch an anderer Stelle war dies bei Bachs Passion noch möglich, nicht zuletzt wegen der differenzierten Harmonisierung der ursprünglich schlichten Melodien.

Partitur

Sinnfülle und Expressivität

Bachs Matthäuspassion ist ein bis in das scheinbar nebensächlichste Detail durchdachtes Werk: Die reiche Instrumentation (allein drei verschiedene Oboen-Typen) fungiert ebenso wie die Wahl der Zweichörigikeit, der Tonarten und der Stimmlagen in den Arien mit den dort verwandten melodischen "Figuren" als klingendes Symbol, oder besser: als "Klangrede". Selbst die Zahl der Noten entspringt keinesfalls dem Zufall oder folgt nur musikalischen Notwendigkeiten. Jedem Partikel des Werkes ist gewissermaßen die Heilsbotschaft von der Erlösung der Menschen eingeschrieben.
Diese Komplexität mit ihren unübersehbaren Verflechtungen und Überlagerungen erzeugt einen Überschuss an Bedeutungen und Sinn. So entsteht ein geistiger, ein kontemplativer Raum, der von einer einzigen Interpretation kaum zu Gänze ausgeschöpft werden kann. Und vieles, wie z.B. die Zahlensymbolik, lässt sich überhaupt nicht hörend erfassen, sondern erschließt sich erst bei der sorgfältigen Lektüre der Partitur. Diese abstrakte, nur im Geiste zu erfassende Meta-Musik eröffnet eine transzendente Perspektive, die ausgehend von dem, was mit den Ohren und dem "Gemüt" vernommen werden kann, in das dahinterliegende, stets größere und unermessliche Geheimnis Gottes hineinführt.
Mit einer solchen Konzeption steht Bach keinesfalls isoliert da; sie spiegelt vielmehr zeitgenössisches barockes Denken wieder und schöpft aus einer langen Tradition. Außergewöhnlich ist allerdings die Konsequenz und Vollendung, mit der Bach dieses Ideal in Musik übersetzt, und zwar zu einem Zeitpunkt, als Weltbild und Ästhetik sich im Zuge eines aufgeklärten Rationalismus fundamental zu wandeln begannen.

Doch ist die gedankliche und musikalische Komplexität von Bachs Musik nur der eine Aspekt. Seine Matthäuspassion ist ja keinesfalls nur ein akademisches Lehrstück. Vielmehr gelingt es dem Komponisten, die gedanklich-reflexiven Elemente, den Affekt und die Ästhetik vollkommen auszubalancieren, theologische Programmatik und autonomes Komponieren zu vereinen - und daraus eine "theonome Kunst" (Nicolas Schalz) zu schaffen.
Was den Hörer dabei unmittelbar packt, ist der durch kühne Dissonanzen, tänzerische Rhythmen sowie eine ebenso "sprechende" wie "singende" Melodik und harmonische Farben erreichte religiöse und dramatische Ausdruck. In den Szenen zwischen Pilatus, Jesus und der erregten Volksmenge schafft Bach eine szenische Verdichtung von mitunter archaischer Wucht, die das Geschehen unmittelbar gegenwärtig setzt. Für den damaligen Hörer dürfte es kaum möglich gewesen sein, sich angenehm erbaut zurückzulehnen; Bachs Musik verstrickte ihn gewissermaßen in das große Heils- und Erlösungsdrama um Sünde und Tod, Kreuz und Leiden. Die verstörte Frage der Jünger "Bin ichs?" auf die Ankündigung Jesu, dass ihn einer von ihnen verraten werde, richtete sich mit Nachdruck auch an die Zuhörer!
Die bildhafte Expressivität dieser Evangeliums-Inszenierung hat ihr Pendant in den gefühlvoll-verinnerlichten oder erregten Arien, in denen der Komponist ein Höchstmaß an affektiver Ausdeutung und zugleich Subtilität erreicht. Durch die Verflechtung der Motive und "Figuren" in der instrumentalen Begleitung wird die von den Zeitgenossen gewünschte nur eindimensionale "Rührung" des Hörers überboten: Stets geht es um die Tiefendimension des Geschehens, man könnte auch sagen: um die Frage nach der göttlichen Wahrheit (und zugleich der Worte, der Musik, der Ästhetik und Empfindungen, die dafür in Dienst genommen werden). Die Matthäuspassion antwortet auf die Wahrheitsfrage, in dem sie diese Wahrheit - die Heilsbotschaft, das Evangelium - gleichsam mit jeder Note verkündet. In dieser radikalen "theonomischen" Verdichtung ist sie, heute kaum weniger als zu Bachs Zeiten, eine Herausforderung für die Interpreten wie die Hörer.

Wiederentdeckung 1829: Die Matthäuspassion als romantisches Oratorium

Zu Bachs Lebzeiten wurde das Werk drei- bis viermal aufgeführt, um dann wie das übrige Vokalschaffen Bachs vom Zeitstil überholt und bis auf wenige Ausnahmen vergessen zu werden. Eine geplante Wiederaufnahme im Jahre 1739 wurde dem Komponisten vom Stadtrat untersagt, das letzte Mal erklang das Werk wohl 1742. Insgesamt hatte Bach fünfzehn Jahre an seiner "Großen Passion" gearbeitet; jede erneute Aufführung brachte kleinere oder größere Änderungen mit sich, die auch den äußeren Umständen geschuldet waren. Aufführungspraktisch gesprochen, war es ein "work in progress", wobei die Reinschrift von 1736 wohl die Ideal-Fassung letzter Hand darstellt.

Erst 1829, über hundert Jahre nach seiner Entstehung und fast 80 Jahre nach Bachs Tod, hat das Werk seinen Eingang in das musikalische "Weltbewußtsein" gefunden. Und zwar in einer vor allem in den Arien stark gekürzten Bearbeitung durch den damals gerade zwanzigjährigen Felix Mendelsohn Bartholdy (1809-1847). Um es überhaupt aufführen zu können, passte er das Werk den Aufführungsbedingungen und der musikalischen Ästhetik seiner eigenen Zeit an, indem er es in puncto Besetzung(sstärke), Instrumentation, Tempo, Dynamik und Agogik [= Struktur der Tempi innerhalb eines Stückes] "romatisierte" - der Beginn der Interpretationsgeschichte nach Bach.
Denn mit der Aufführungspause waren auch die barocken Aufführungstraditionen und (ungeschriebenen) -konventionen abgerissen. Das Bachsche Autograph musste interpretiert und, wo nötig, auch ergänzt oder verändert werden. Manche Instrumente waren nicht mehr im Gebrauch, so Cembalo und Laute (Ersatz: Hammerklavier und Harfe) oder, wie die ominöse "Oboe da caccia", schlechthin unbekannt. Mendelsohn wählte hier die zu Bachs Zeit noch kaum gebräuchliche Klarinette. Bei späteren Aufführungen fasste man zudem den sogenannten Generalbass (eine einstimmige, mit Akkordziffern bezeichnet Bassmelodie, die im Barock das musikalische Fundament jedes Stückes darstellte) nur noch als eine Skizze auf, die es auszukomponieren galt (so 1867 in der Fassung von Robert Franz). Zu Bachs Zeiten hätte man sie mit typischen Generalbassinstrumenten wie Cembalo, Orgel, Laute oder Cello während der Aufführung anhand der "Skizze" improvisieren lassen. Auch besetzte Bach seine Passion nur mit Knaben- und Männerstimmen, während die Alt- und Sopran-Partien bei Mendelsohns Wiederaufführung von Sängerinnen übernommen wurden.
Überhaupt: Die vermeintliche Monumentalität der Matthäuspassion war eher eine Frage der Disposition, nicht der Masse von Mitwirkenden. Bachs Besetzung wird eher kammermusikalisch gewesen sein, vielleicht mit zwei, drei oder vier Sängern pro Stimme, möglicherweise hat er seine Passion sogar nur solistisch, mit acht bis zehn Sängern und zwei kleinen Kammerorchestern aufgeführt. Mendelssohn verfügte über den großen gemischten Laien-Chor der Berliner Singakademie (300-400 Mitglieder) und ein entsprechendes Orchester, bei dem die Streicher deutlich gegenüber den Holzbläsern dominierten - am Ende dieser Entwicklung steht der dichte, homogone, aber auch etwas monochrome Mischklang moderner Sinfonieorchester. In barocken Orchestern war die Klangbalance dagegen noch so ausgewogen, dass die Klangfarben von Streichern und Holzbläsern individueller, mehr wie die einzelnen Register einer Orgel, hervortraten. Außerdem sorgten ein tieferer Stimmton, darmbesaitete Streicher und Blasinstrumente mit Grifflöchern statt Klappen für ein anderes Klangbild, dass dem sprechenden, rhythmisch akzentuierten Duktus der Musik entgegen kam. Bachs Behandlung der Holzbläser wie überhaupt die Differenzierung des Orchesterklangs zeigt eindrücklich, wie sehr ihn sein Stoff auch hier zu ungewöhnlichen Lösungen inspiriert hat.
Schließlich aber hatte sich auch das Verständnis des Werkes grundlegend gewandelt. Mendelssohn und seine Hörer entdeckten in Bachs Passion die ästhetisch-musikalischen Ideale ihrer eigenen Zeit gleichsam vorweggenommen: die schon erwähnte Monumentalität und Weiträumigkeit, erhabenen Ernst und Pathos, aber auch "Empfindsamkeit", dazu eine reiche, chromatische Harmonik und - als eine wesentliche Triebfeder romantischer Kunst - die Religion. Oder besser: eine religiöse Gefühlswelt. Mit der Aufklärung und ihrem "Prozess gegen das Christentum" hatte die Religion am Ende des 18. Jahrhundert als innerweltlich wirksame, gestaltende Kraft ihre Bedeutung eingebüßt. Im Zuge der Romantik erlebte sie zwar eine Renaissance, jedoch mehr als Gegenstand eines subjektiven, innerlichen Erlebens. Nicht zuletzt wurde das Werk als Denkmal eines deutschen Musikschaffens national vereinnahmt.

Es liegt in der Konsequenz dieser Entwicklung, dass Bachs Passionsoratorium nun den Weg aus der Kirche in den Konzertsaal antrat. Es war nicht länger ein liturgisches Werk, sondern eine religiöse Kunstmusik, die in den bürgerlichen Konzertbetrieb integriert wurde, genau so, wie man jetzt Raffaels "Sixtinische Madonna", ursprünglich als Altarbild geschaffen, andächtig-ergriffen im Museum betrachtete. So lassen sich auch die willkürlichen Kürzungen verstehen, mit der die Interpreten bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in die Werkgestalt eingriffen: Sie sind Teil des Assimilationsvorganges, der ausscheidet, was nicht verwertbar erscheint, weil es sich der neuen Ästhetik nicht fügt oder weil es nicht mehr verstanden wird. Mit der Verklärung (und Verunstaltung) des Werkes einher ging auch die Erhebung seines Schöpfers zum Genie und zum "fünften Evangelisten", eine Bezeichnung, die Bach sicherlich befremdet, wenn nicht schockiert haben dürfte.

Die Matthäuspassion "im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit" (W. Benjamin)

Gleichfalls in der Konsequenz einer solchen Säkularisierung liegt es, wenn die Matthäuspassion als Oper aufgeführt, als Ballett inszeniert (so 1981 vom Choreographen John Neumeier) und in Adagio- oder Best-of-Compilations angeboten wird. Bach zum Träumen. Der private Genuss im heimischen Wohnzimmer, der durch die Schallaufzeichnung möglich geworden ist, markiert gewissermaßen den Gipfel romantisch-subjektiver Verinnerlichung, aber auch den einer drohenden Entleerung zum anheimelnden Singsang: "Behüte Gott, ihr Kinder, es klingt wie in meinem Wohnzimmer!"

Für die Aufführungspraxis bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein stand in der Regel außer Frage, dass man Bach mit den Mitteln und Möglichkeiten der eigenen Zeit aufführte und die Aufführungspraxis zur Bachzeit bestenfalls als Teil der Werkgeschichte zur Kenntnis nahm. So haben die originalen Besetzungsverhältnisse nur wenige Interpreten daran gehindert, das Werk mit stetig wachsenden Chor- und Orchestermassen aufzuführen und die Solopartien opernerprobten Gesangsstars anzuvertrauen, die der Darstellung ihren unverkennbaren, aber nicht immer adäquaten Stempel aufprägten.
Dieser unreflektierte und unsachgemäße Zugang ist erst mit der sogenannten "Historischen Auführungspraxis" (oder "historisch informierten Aufführungspraxis") einem mehr quellenbezogenen Musizieren gewichen. Historische Musikwerke sollen unter weitestgehender Berücksichtigung der Spieltechniken, Instrumente, Besetzungs- und Interpretationsvorstellungen der Entstehungszeit realisiert werden. Ziel ist dabei eine "moderne" Interpretation mit den Mitteln der Vergangenheit, keine museale Rekonstruktion der Uraufführungssituation (die schon deshalb unmöglich ist, weil beim heutigen Publikum weder die historische Hörererwartung noch das historische Erleben der Hörer rekonstruiert werden können).
So ist hier auch kein authentischer "Originalklang" herausgekommen. Eingeleitet wurde vielmehr eine weitere Episode der Interpretationsgeschichte, die allerdings bis in die Gegenwart bestimmend ist und ihrerseits Konventionen ausgeprägt hat, die inzwischen historisch geworden sind. Dass der Anfang der historisierenden Ästhetik durchaus mit Aufbruchbewegungen im Politischen und Sozialen (68er Bewegung) wie Mentalen ("authentisch", "handgemacht", "alternativ", "Natur", "Light-Produkte") korrespondierte, eröffnet kulturgeschichtlich noch manch kaum untersuchten Seitenpfad.

Dabei kann die angezielte Objektivität der Mittel nur eine relative sein. Im Fall der Matthäuspassion werden die Verhältnisse u. a. durch die über Jahre hinziehende Arbeit des Komponisten an dem Werk verkompliziert. Es liegen zwei Fassungen vor. Die Besetzungsstärke ist nach wie vor umstritten. Und die verfügbaren Quellen zur barocken Musizierpraxis lassen genügend Raum für zahlreiche, auch widersprüchliche Interpretationen. Vieles, was in Bachs eigener Zeit selbstverständlich war, wurde gar nicht erst schriftlich festgehalten. Die heute gebräuchliche und aus den Quellen herausdestillierte "Urtext"-Partitur mutet eigentümlich nackt an; Temporelationen, Dynamik und Phrasierung müssen erst erarbeitet werden. Auch wurde die doppelchörige Anlage lange Zeit nicht richtig verstanden, nicht zuletzt deshalb, weil sie aufführungspraktisch ein Problem darstellt (räumliche Trennung der Ensemble, zwei Orgeln).
So sind hier immer nur Annäherungen möglich - was einer stets neuen, lebendigen Aneignung freilich entgegenkommt. Mit der Berücksichtigung aller äußeren Parameter ist jedoch noch nicht die Mentalität des Barock zurückgewonnen: die angemessene Einfühlung in den Text der Passion bleibt immer eine besondere Herausforderung. Keine noch so genaue philologische Kenntnis enthebt moderne Musiker der Notwendigket interpretatorischer Entscheidungen und Kompromisse. Ein Beispiel: Bachs jugendlich-reife, im Stil seiner Zeit vorzüglich ausgebildete Knabenaltisten und -soprane lassen sich heute schon aus evolutionsbiologischen Gründen einfach nicht mehr reproduzieren: Pubertät und Stimmbruch setzten zu Bachs Zeiten sehr viel später ein, Bach selbst sang bis zu seinem 18. Lebensjahr Sopran. Heute ist damit häufig schon mit 12. Jahren Schluss. Doch wie will man von einem Kind in diesem Alter erwarten, dass es, abgesehen vom technischen Aspekt, auch den Ausdrucksgehalt der Musik angemessen umsetzt: "Buss und Reu Knirscht das Sündernherz entzwei, Daß die Tropfen meiner Zähren Angenehme Spezerei, Treuer Jesus, dir gebären"?
Vielleicht liegt darin auch der utopische, nicht vereinnahmbare Gehalt von Bachs Musik und ihre anhaltende Faszination. Denn die Fremdheit, die dem Werk durch die historische Distanz zugewachsen ist, sprengt heute nicht allein unsere ästhetischen Vorstellungen und Konventionen. Die ungebrochene Glaubenszuversicht und religiöse Entschiedenheit der Matthäuspassion, die konträr zum heute üblichen "anything goes" stehen, berühren und beunruhigen. Oder provozieren. Ob und in wie weit dieser also dieser utopische Gehalt eingelöst wird, hängt nicht zuletzt von der jeweiligen Interpretation ab.

Unter den aktuell verfügbaren Aufnahmen lassen sich, will man auch heutigen Hörgewohnheiten und klangtechnischen Standards Rechnung tragen, drei Gruppen bilden:

a) Historische Mono-Aufnahmen, die wegen ihrer Klangqualität für die meisten Hörer vor allem von dokumentarischen Interesse sein dürften.
b) Stereo-Aufnahmen, deren Interpreten das Werk mit den Mitteln ihrer eigenen Zeit aufführen.
c) Stereo-Aufnahmen, deren Intrepreten die Konventionen der historischen Aufführungspraxis berücksichtigen. Insbesondere bei jüngeren Aufnahmen ist der Unterschied zwischen der "traditionellen" und "historisierenden" Aufführungspraxis mittlerweile aber nicht mehr so groß.

Ich beschränke ich mich hier jeweils auf einige typische oder herausragende Beispiele:

1. Zwischen "Wagnerismus" und "Neuer Sachlichkeit": Mengelberg und Ramin

Den interpretatorische Spielraum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts markieren exemplarisch die extremen Positionen Willem Mengelbergs und Günter Ramins.

Einspielung Mengelberg

Für eine spätromantisch breit gelagerte Herangehensweise, die von der monumentalisierenden Aufführungspraxis des späten 19. Jahrhunderts herkommt und den Notentext mit größter Freiheit behandelt, ist die Aufnahme mit dem Amsterdamer Concertgebouw Orchestra unter Willem Mengelberg von 1939 sicherlich das faszinierendste Beispiel. Ursprünglich auf Schallfilm aufgezeichnet, ist sie mittlerweile auf zwei CDs erhältlich (Label: Philips). Mengelberg übersetzt die - beim ihm um zahlreiche Arien und Choräle gekürzte - Passion in seine Zeit durch eine massive Orchesterbesetzung, extrem langsame Tempi, romantisch-subjektive Gesangsmanieren (z. B. ausgeprägtes Vibrato, Verschleifung von Tönen) und eine für heutige Ohren maßlose, mitunter schockierende Expressivität. Hier wird die Matthäuspassion zum großen, auf seine Weise konsequenten Musiktheater in der Tradition eines Richard Wagner.
Eine historisch reflektierte Auslotung der Bachschen Inventionen und Intentionen darf man freilich nicht erwarten. Sollte man, um mit Friedrich Hölderlin zu sprechen, die Matthäuspassion jemals für eine "heilig-nüchterne" Angelegenheit gehalten haben, so wird man hier mit einem Ausdruckswillen (und -vermögen!) konfrontiert, die in ihrer Zuspitzung zugleich den Endpunkt einer bestimmten aufführungspraktischen Entwicklung markieren. Man höre nur die etwas gellende Färbung von Kurt Erbs Tenor (Evangelist), die Assoziationen an den Kommentatoren-Ton alter Wochenschauen weckt. Hier gewinnt man interessante Einsichten in die Universalität einer zeitbedingten Rhetorik. Heute dürften wohl kaum noch Sänger zu finden sein, die in puncto Atemtechnik und Reaktionsvermögen dem unberechenbaren Mengelbergschen Dirigat mit seinen spontanen Tempowechseln - auch innerhalb eines Stückes - gewachsen wären.

Antipode zu Mengelbergs wagnerisierter Passion ist die zwei Jahre später in Deutschland entstandene, aber erst nach dem II. Weltkrieg verbreitete, ebenfalls gekürzte Fassung unter Günter Ramin (jüngst auf 2 CDs bei The Internation Music Company, Hamburg wiederveröffentlich). Die Aufnahme ist nicht zuletzt Dokument für die Bach-Pflege im 3. Reich. Ramin pflegt, verglichen mit seinen den Klangvorstellungen der Spätromantik verpflichteten Kollegen, einen geradezu nüchtern-abgeklärten Bachstil: das musikalische Pendant zur Ästhetik der "Neuen Sachlichkeit". Er zwingt der Matthäuspassion nur selten die Emotionalität und plakative Klanglichkeit eines Mengelberg auf, statt dessen orientiert er sich genau am überlieferten Notentext. Wenn man so will: Form und Funktion (oder Partitur und Aufführung) entsprechen hier einander wieder mehr. Dass dies u. a. im Fall der Rezitative gerade nicht der barocken Praxis enspricht (hier diente das notierte Taktmaß nur als Orientierungshilfe, als Ideal wurde ein am natürlichen Redefluss orientierter Vortrag angesehen) spricht nicht gegen den wegweisenden Charakter von Ramins Unternehmung, unterstreicht aber auch noch einmal die Zeitbedingtheit jeder modernen Interpretation und ihre Abhängigkeit von Erkenntnissen über die historische Aufführungspraxis. Auch das weithin geübte, die Bachsche "Klangrede" nivellierende Legatospiel gehört hierhin. Während vor allem die Sopran- und Altarien auch heute noch durch ihre schlichte, unprätentiöse - gleichsam objektive - Gestaltung berühren, pflegt der technisch vorzügliche Evangelist (wieder Kurt Erb) den schon unter Mengelberg anzutreffenden Vokalstil. Den Basso-Continuo läßt Ramin - damals noch keine Selbstverständlichkeit - mit einer historisch durchaus legitimen Kombination von Orgel, (modernem) Cembalo und Cello ausführen.

2. Bach mit den Mitteln der Gegenwart: Karl Richter

Ginge es allein um die Verkaufszahl einer Aufnahme, so dürfte die Interpretenkrone wohl Karl Richter gebühren. Wobei Richter das Werk gleich zweimal vollständig für die Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon (DG) eingespielt hat (1958 und 1979, je 3 CDs) und beide Aufnahmen nach wie vor erhältlich sind. Werbewirksam unterstützt durch seine Plattenfirma, die ihm zudem die seinerzeit besten Solisten zur Seite stellte, arrivierte Richter wohl zu DEM deutschen Bachexegeten. Für manche, die mit seinen Aufnahmen großgeworden sind, ist er noch heute der Maßstab. Dabei markiert sein Ansatz in etwa den Mittelweg zwischen spätromantischem Pathos und der Zurückhaltung der Nachkriegsmoderne.
Zwischen diesen Extremen bewegen sich im wesentlich auch die Aufnahmen der großen Dirigentenpersönlichkeiten bis 1970, ob es sich nun um die Einspielungen von Wilhelm Furtwängler (EMI 1954), Otto Klemperer (EMI 1961) oder auch Herbert von Karajan (zweimal: Archipel 1950 / DG 1972) handelt. Eine gewisse Statuarik, die im Falle von Karajans zweiter Produktion nahezu bis zum völligen Stillstand der Musik getrieben wird, ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner, der diese Aufnahmen auszeichnet. Der getragene Ton bedient jedoch nur allzu häufig die Klischees von Größe, Erhabenheit oder vermeintlicher Gefühlstiefe und unterschlägt, unterstützt durch einen pastosen, dafür wohligen Gesamtklang, Reichtum und Sinnfülle der Bachschen Musik. Wenn man diese Heransgehensweise auch nicht als sachgemäß bezeichnen kann, so soll damit doch keinesfalls bestritten werden, dass diese Einspielungen und entsprechende Aufführungen den Hörern großartige Erlebnisse verschafft haben und nach wie vor verschaffen. Für die Beliebtheit der Richterschen Aufnahmen, die obigen Klischees allerdings auch nicht immer entgehen, dürfte insbesondere die gemessene Dramatik in Verbindung mit sinfonischer Klangfülle maßgeblich gewesen sein.

Einspielung Richter

Vor dem Hintergrund, dass Nikolaus Harnoncourt 1970 seine erste historisierende Einspielung veröffentlicht und damit aufführungspraktisch ein ganz neues Bachbild inauguriert hatte, wirkt Richters Aufnahme von 1979 freilich wie ein Anachronismus. Ohne die Ernsthaftigkeit und spürbare Inbrunst der Ausführenden in Frage stellen zu wollen: Die überdimensionierte Besetzung, die bis zur Erschöpfung (des Hörers) gedehnten Tempi und klangliche "Spezialeffekte" irritieren heute mehr, als dass sie den Gehalt des Werkes vermitteln, zumal Richter mit den barocken "Figuren" mancher Arien offenbar nichts anzufangen weiss und sich auf vordergründige Virtuosität beschränkt. Ein Beispiel ist die Arie nach dem Selbstmord des Judas, "Gebt mir meinen Jesus wieder". Diese ist eigentlich Ausdruck höchster emotionaler Erregung. Die Solovioline, hier sowohl Künderin der verzweifelten Zerrissenheit wie auch musikalisches Bild für den hingeworfenen "Mörderlohn" (die dreißig Silberlinge, um Judas Jesus verriet), die Sündenstricke und letztlich die Schlinge, die sich um den Hals des Judas legt, ergeht sich in Richters Interpretation in gemütvollen Kantilenen.
Anderes wird hingegen übertrieben, so die gewaltigen Basso-Continuo-Orgelakkorde, mit denen das Evangelisten-Rezitativ auf die Worte "und schlugen ihn auf sein Haupt" endet. Zu einem (durchaus fragwürdigen) musikalischen Höhepunkt gerät der Chor "Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen". Breiter als breit, leuchtend und intensiv - man meint, einen Chorsatz von Johannes Brahms zu hören. Allerdings wird hier der biblische Text völlig von der puren Sinnlichkeit seiner ästhetischen Darstellung absorbiert. Man versteht kein Wort, und man muss offenbar auch kein Wort mehr verstehen - frei nach Wagner ist hier offenbar Gefühl alles, Erkenntnisse sind nur Schall und Rauch. Also Ästhetizismus pur, statt den Hörer der Herausforderung des gesungenen Bekenntnisses zu konfrontieren.

3. Die "große Wende": Nikolaus Harnoncourt und die historische Aufführungspraxis

Nach der Aufnahme der H-Moll-Messe (1968) kam Nikolaus Harnoncourts erste historisierende Einspielung der Matthäuspassion 1970 (beides Teldec) zwar nicht mehr unvorbereitet, sorgte aber für großes Aufsehen. Die Reaktionen reichten von spontaner Zustimmung bis zu heftigster Ablehnung. Man vergleiche nur seine Auffassung des Eingangschores mit derjenigen seiner Vorgänger: Mengelberg benötigt 10.54, Richter 9.50 (1958), Ramin immerhin 8.40 (1939), Harnoncourt hingegen nur noch 7.25 Minuten! 1979 wählt Richter - vielleicht als Reaktion auf Harnoncourt - dann mit 11.6 Minuten demonstrativ ein noch langsameres Tempo.
Geschwindigkeit ist jedoch nur die eine Dimension. Harnoncourt lässt in Orientierung an Bachs Besetzungspraxis kammermusikalisch verschlankt musizieren, was schon atemtechnisch ganz andere Tempi favorisiert. Auch setzt er schärfere Akzente, artikuliert mit lebendiger Dynamik und kleingliedriger ,sprechender' Phrasierung. Die frühere Massigkeit weicht einer Durchhörbarkeit, die die Details der Partitur und damit ihre musikalischen Zeichen hörbar macht. Die Choräle, die früher häufig als ausgesungene Fermaten die Architektur des Werkes ins Wanken brachten, werden wieder vom Gemeindegesang her begriffen und natürlich und ohne falsche Weihe artikuliert. Statt filmmusikalischer Effekte gibt es den Notentext in ungewohnter Sensibilität und Klarheit zu hören. Dies kommt nicht zuletzt der Wortverständlichkeit zugute, und vom Wort her - dem biblischen oder dichterischen - hatte Bach sein Werk ja auch konzipiert und komponiert.
Dass die Knabensolisten den Anforderungen ihrer Partien dagegen nur bedingt gewachsen sind, wurde bereits angesprochen.

Einspielung Harnoncourt

Um auf das beschleunigte Tempo zurückzukommen: Die Einsicht, dass dem Eingangschor mit seinem Zwölfachtel-Takt ein tänzerischer Siciliano-Rhythmus zugrundeliegt, äußert sich bei Harnoncourt in einer beschwingteren, pulsierenden Darstellung, die das erhabene Trauerportal, das die romantische Tradition noch in ihm sah, in einen "Hexentanz" verwandelte - so zumindest die empörten Kritiker. Doch gerade in der Synthese von bewegter Trauer (Tonart e-Moll, klagende Motivik) und Trost (bewegter Kontrakpunkt, Pastorale und Tanz im Vorauswissen um Erlösung und Auferstehung) offenbart sich Bachs vielschichtiges musikalisches Denken. Genau dieses spannungsvolle Zusammengehen auch widersprüchlicher Elemente wird in den meisten älteren Einspielungen unterschlagen. Mengelberg, Klemperer, Karajan und Richter sahen hier vor allem den beziehungslosen, sich selbst genügenden Traueraffekt.

Harnoncourts vermeintlicher Tabubruch hat sich heute aufführungspraktisch nicht nur durchgesetzt, sondern nimmt sich seinerseits wieder historisch aus: 1985 und 1999 hat er das Werk erneut eingespielt (Teldec), im ersten Fall sogar wieder mit einem konventionellen Orchester. In der Aufnahme von 1999 wird nicht nur die enorm gewachsene Perfektion im Spiel mit alten Instrumenten deutlich, sondern auch eine Abkehr von manchen "Purismen" der Anfangszeit. Die Bögen schwingen wieder gelassener aus, ohne dass das Ideal einer Klangrede aufgegeben würde. Das in der ersten Einspielung etwas zarte Klangbild erreicht wieder eine sonore Fülle, bleibt gleichwohl scharf konturiert und steht im Dienst dramatischer Ausdeutung. Statt der unzureichenden Knaben singt wieder ein gemischtes Ensemble.
So unausgewogen und technisch unvollkommen die historisierende Aufführungspraxis zu Beginn manchmal daherkam: Ihre Suche nach Authentizität hat sich als ausgesprochen anregend erwiesen. Die Mehrzahl der heutigen Aufführungen folgt mittlerweile dieser Ästhetik, selbst da, wo mit einem traditionellen Orchester musiziert wird. Bestes Beispiel dafür ist wohl Helmut Rilling, der die Errungenschaften der historisierenden Aufführungspraxis für seine jüngste Einspielung der Matthäuspassion fruchtbar machte (Hänssler Classic).

Darüber hinaus haben sich auch unter den "Historisten" ganz unterschiedliche Dirigenten-Persönlichkeiten profilieren können, von denen stellvertretend einige vorgestellt seien:

Einspielung Gardiner

Einspielung Max

John Eliot Gardiner als prominentester Repräsentant der britischen Alte-Musik-Szene konzentriert sich in seiner Einspielung von 1989 ganz auf das Drama (DG / Archiv). Ein "Oratorienton" wird dabei so konsequent vermieden, dass das Geschehen vom religiösen Standpunkt aus unterbelichtet erscheint. Bei aller spieltechnischen Perfektion und Brillianz bleibt die Darbietung eigentümlich kühl, kalkuliert. Gardiner scheint über das temporeiche, beschwingte Musizieren zu vergessen, dass die Worte der Bibel auch zu Bachs Zeiten eine sakrale Aura besaßen, die zur Geltung gebracht werden wollte. Hier aber geht nichts zu Herzen, trifft kaum ein Wort - trotz der guten Gesangssolisten. Zudem ist die Wortverständlichkeit für ein Spitzenensemble wie den Monteverdi-Chor erstaunlich schlecht.
Gardiner mag forsche Tempi wählen, dennoch bricht in puncto Geschwindigkeit die Einspielung von Hermann Max und der Rheinischen Cantorei sämtliche Rekorde; diese vollständige Fassung der Passion passt auf zwei CDs (Capriccio 1995). Zwar hält der straffe Zugriff die Musik in stetem Fluss, auch verfügt Max über sehr gute Solisten (u. a. Christoph Pregadien als Evangelisten). Und sein Chor und Orchester musizieren luzide und agil, stets ganz nah am Wort und arbeiten die Details heraus, wobei sie durch eine eher trockene Kammerakustik unterstützt werden. Davon profitieren besonders die Choräle. Zum packenden Drama um Heil und Erlösung gerät diese Matthäuspassion trotz ihrer Gradlinigkeit - oder gerade deswegen - jedoch nicht.

Einspielung Herreweghe

Anders gelagert sind die Aufnahmen des Belgiers Philippe Herreweghe. Er nimmt das religiöse Anliegen ernst, tendiert aber insgesamt zu einem kontemplativen Musizieren, dem es manchmal an Expressivität mangelt. Nach einer bemerkenswerten, sehr verinnerlichten ersten Produktion (1986 Harmonia Mundi France) spielte er die Matthäuspassion 1999 ein weiteres Mal ein (ebenfalls HMF). Wie schon bei Harnoncourt, so lässt sich dabei auch bei Herreweghe in der zweiten Aufnahme eine größere Souveränität und Gelassenheit im Umgang mit dem historisierenden Apparat feststellen. Die jüngere Produktion wirkt organischer und auch dramatischer, wobei die Ausformung der Klangrede in den Arien häufig sehr bestechend ist. Gleichwohl setzt der Dirigent auch auf atmosphärische klangsinnliche Wirkungen. Begünstigt wird dies durch ein räumliches, manchmal etwas halliges Klangbild, das die dunkel timbrierten Instrumente und den vollen, warmen Chorklang freilich sehr schön zu Geltung kommen lässt. Allerdings leidet gerade in Chorälen die Textverständlichkeit darunter. Zwar agiert Josefs Seligs Christus eher konventionell, während Dietrich Henschels gutturaler Bass in der tiefen Lage etwas zu massiv ist, aber mit Interpreten wie Ian Bostridge (Evangelist) und Andreas Scholl (Altus) präsentiert sich Herreweghes zweite Aufnahme sängerisch auf der Höhe.

Einspielung Spering

Nach ihren "radikalen", alternativen Anfängen hat sich die historische Aufführungspraxis nicht nur perfektioniert, sondern ebenfalls auf einem Mittelwert eingependelt, der für die früher verpönten "Romantizismen" durchaus wieder offen ist. Dennoch darf weiter mit originellen oder provozierenden Interpretationen gerechnet werden. Die historische romantische Adaption des Werkes in einer ebenfalls historisierenden Einspielung bietet Christoph Spering (Opus 111, 2 CD 1992), der die Mendelsohn-Fassung gewählt hat. Bach im Gewand einer "authentischen" Romantik, allerdings vor Wagner! Scheinbar ein Paradox, ist dieses Projekt im Grunde die Folge einer immer weiter expandierenden historisierenden Aufführungspraxis, die inzwischen bei Anton Bruckner im späten 19. Jahrhundert angekommen ist. Hier wird nun die Rezeptionsgeschichte selbst zum Gegenstand einer Rekonstruktion.

Einspielung McCreesh

Die jüngste Einspielung der Matthäuspassion unter dem Briten Paul McCreesh bietet das Werk in einer Minimalbesetzung von nur acht Sänger/innen und zwei sehr kleinen Kammerorchestern. Obschon diese Ein-Sänger-pro-Stimme-Praxis nicht von allen Bachforschern geteilt wird, hat sie doch einiges für sich. Ich habe bislang nur Ausschnitte gehört - und vor allem von großen Eckchören zu wenig - um abschließend etwas sagen zu könne. Daher gibt es hier lediglich einen ersten Eindruck.
Trotz anfänglich großer Skepsis meinerseits muss ich zugeben, dass McCreeshs Einspielung (DG Archiv 2003) weder unterkühlt noch dünn klingt. Beeindruckend ist die Geschlossenheit, die durch das handverlesene Sänger/innen-Ensemble erreicht wird, das sowohl die Chor- als auch die Solistenpartien singt. Klangliche Balanceprobleme, die sich in anderen, auch historisierenden Aufnahmen, bemerkbar machen, stellen sich zu keinem Moment ein. Schlechthin überragend in der Synthese aus Sanglichkeit und rhetorischer Durchdringung gestaltet Mark Padmore die Partie Evangelisten: mit jugendlich-unverbrauchter, farblich und dynamisch enorm wandlungsfähiger Stimme, kristallklar in der Linienführung, dabei bewegend in seiner subjektiven Einfühlung.
In dieses Konzept fügen sich auch die jungen Stimmen der übrigen Solisten ein, die dem Werk etwas von seiner so häufig anzutreffeden altväterlichen Klanglichkeit nehmen. Und der unpathetische - heilig-nüchterne! - Jesus von Peter Harvey ist hier wirklich mal ein Mann Anfang dreißig. Den operhaft-sentimentalen Ton, mit dem die Sänger häufig agieren, findet man hier offenkundig nicht. Auch die miniaturisierten Volkschöre geraten überraschend dramatisch, wobei der Mangel an Masse durch Flexibilität und Präzision wettgemacht wird. Das "Lass ihn kreuzigen" lässt auf seinem Höhepunkt an hasserfüllter Eindringlichkeit nichts zu wünschen übrig. Durch die expressive Gestaltung laufen auch die zügigen Tempi nicht ins Leere.
Es scheint, als habe McCreesh hier auf seine Weise Lehren aus Theodor W. Ardornos Schrift "Bach gegen seine Liebhaber verteidigt" gezogen. Das ist nur konsequent: Die Sprengung von Konventionen ist ja schon ein Wesensmerkmal von Bachs Musik selbst!

Georg Henkel

 

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