Musik an sich


Artikel
Ray Wilson über Genesis, Gesang und Musik an sich




Info
Gesprächspartner: Ray Wilson

Zeit: 16.01.2015

Ort: Brakel

Interview: Face 2 Face

Stil: Pop / Rock / Progressive Rock

Internet:
http://www.raywilson.net

Gerade bei seinen Konzerten zeigt sich, dass Ray Wilson sowohl Arbeiter als auch Künstler ist. Momentan ist er mit Genesis Classic unterwegs, die einzige erschwingliche Möglichkeit, Songs der Superstars mit einem ihrer Originalsänger zu hören. Michael Schübeler nahm die Strapazen einer sechsminütigen Autofahrt auf sich, um dem in Polen lebenden Schotten vor dem ausverkauften 130-Minuten-Gig in der Stadthalle Brakel (in der Besetzung Ray Wilson (Gesang, Akustikgitarre), Steve Wilson (Leadgitarre, Backing Vocals), Marcin Kajper (Bass, Saxophon, Querflöte), Mariusz Koszel (Drums), Donavan Aston (Keyboards, toller Gesang bei „Don´t Give Up!“) und Steffi Hölk (Violine)) ein paar Fragen zu Genesis, Gesang und Musik an sich (sic!) zu stellen.


MAS: Als ich mir die Fotos im Booklet der DoCD/DVD `20 Years And More´ angeschaut habe, fiel mir spontan der Titel für diesen Artikel ein: „Arbeiter und Künstler“. Findest du dich darin wieder?

Ray Wilson: Ja, definitiv. Nur wenige Künstler wie ich kennen sich mit allen Aspekten des Business´ aus. Nach meiner Zeit mit Genesis beschloss ich, wirklich die Kontrolle über meine Karriere zu übernehmen. Alles was ich herausbringe, alles was ich mache, das ganze Equipment, die Anlage, das Licht wird von dem finanziert was ich tue. Ich vermute, manchmal muss ich ein paar Kompromisse eingehen, habe aber andererseits die Freiheit, zu tun was ich will. Und das ist mir den Preis wert.

MAS: Kreative Freiheit ist das Größte für jeden Künstler.

Ray Wilson: Das ist es. Und ich habe das. Natürlich sind in meinem Publikum Leute, die „That´s All“ oder „Land Of Confusion“ oder „Carpet Crawlers“ oder einen Peter Gabriel-Song hören wollen. Das sind großartige Lieder. Ich genieße es, tolle Stücke zu spielen. Ich versuche, eine Balance zu finden aus dem, was die Leute aus der großartigen Welt von Genesis hören wollen, und der Musik, die ich selbst komponiere. Dieses Gleichgewicht habe ich jederzeit im Blick.

MAS: Was mich schon immer gewundert hat: Die spielst ja auch Genesis-Songs, an denen du nicht mitgeschrieben hast. Gibt es da keine Probleme mit dem Urheberrecht?

Ray Wilson: Was Aufführungen betrifft nicht. Ich könnte mich hinstellen und eine Beatles-Show spielen, wenn ich wollte. GEMA, MCPS und ähnliche Gesellschaften sammeln schließlich Geld für diese Dinge. Und so sollte es auch sein. Jeder sollte jeden großartigen Song spielen dürfen. Es ist doch schön, andere Künstler deine Lieder spielen zu hören!

MAS: Denkst du, du kannst einem Song etwas Neues hinzufügen, wenn du ihn akustisch spielst, im besten Fall sogar eine neue Dimension?

Ray Wilson: Nun, manche Songs funktionieren akustisch sehr gut, andere überhaupt nicht, sofern du kein Wahnsinnsgitarrist bist (was ich nicht bin). Ich bin ein leidlicher Gitarrist. Meine Stärke ist das Singen. Besonders die tiefen Lagen liegen mir. Meinen Stimmumfang kenne ich gar nicht, aber ich denke, dass meine Stimme ziemlich charakteristisch ist. Kraft und Wiedererkennungswert, darauf kommt es an. Das gilt besonders bei Akustik-Konzerten, wo du dich als Sänger nicht hinter der Technik verstecken kannst.
Ich glaube, bei bestimmten Songs kann etwas Neues passieren, wenn sie auf das Wesentliche reduziert werden, egal ob man sie solo auf der akustischen Gitarre oder auf dem Klavier oder auf was auch immer spielt. Wenn du letztes Jahr ein Peter Gabriel-Konzert gesehen hast: Er hat die Show nur mit dem Piano begonnen.
Ich bin auch ein großer Fan von Jackson Browne. Und er gefällt mir besser, wenn er einfach nur akustische Gitarre spielt, als mit der Band. Er konzentriert sich stärker auf den Text. Das Charisma von dem, was er sagt und die Grundmelodie kommen voll zur Geltung.



MAS: Weißt du sofort, ob ein Song akustisch funktioniert, oder musst du es erst ausprobieren?

Ray Wilson: Na ja, eine gewisse Vorstellung hat man schon. Wenn du einen Song wie „Calling All Stations“ hörst, erkennst du gleich, dass er akustisch nicht besonders gut funktioniert. Ebenso offensichtlich ist z.B. bei „Not About Us“, dass es geht, weil das Stück bereits auf der akustischen Gitarre geschrieben wurde. Aber es gibt auch Überraschungen: „In The Air Tonight“ kommt akustisch richtig klasse rüber, was man nicht unbedingt vermuten würde, wenn man das Original hört.
Zu Beginn meiner Solokarriere habe ich eine Version von „Carpet Crawlers“ auf der Akustik-Gitarre gemacht. Das funktionierte sehr gut. Es hatte nicht mehr das Piano-Arpeggio, für das es berühmt ist, aber es ist melodisch so stark, dass es sich einfach gut anhörte.

MAS: Aber die Krönung in deiner aktuellen Show ist das Saxophon!

Ray Wilson: Ja, das Saxophon hat dem, was ich mache, eine neue Dimension hinzugefügt. Ich bin ein großer Fan der E Street Band. Wenn ich meinen Lieblingskünstler nennen müsste, wäre das wahrscheinlich Bruce Springsteen. Er ist der beste Liveperformer von allen. Ich liebe Clarence Clemons. Er war ein wunderbarer Musiker mit einer ungeheuren Präsenz. Ich mag das Saxophon im Rock´n´Roll; einfach aufgrund der Energie, die es freisetzt.
Ich stehe auch sehr auf gute Lyrics. Ich mag es, wenn der Künstler eine Geschichte erzählt. Von Leonard Cohen gibt es einen Song („Anthem“), in dem es heißt: „Ring the bells that still can ring. Forget your perfect offering. There is a crack in everything. That´s how the light gets in.“ And I LOVE that! Es bedeutet, dass es die Unzulänglichkeiten sind, die Seele verleihen, es real werden lassen. Es sind die Risse, die harten Zeiten, die Rückschläge, die das Licht hereinlassen. Dadurch wird es dir überhaupt erst möglich, dich weiterzuentwickeln.

MAS: In deinem ellenlangen Tourplan habe ich gesehen, dass du mit vier Line-Ups unterwegs bist.

Ray Wilson:Wahrscheinlich sind es sogar noch mehr! Das hängt ganz von den Orten ab, in denen ich auftrete. Wenn ich beispielsweise eine kleine Show in der Schweiz spiele, in Laufen, in einem winzigen Club mit 40 Leuten, dann gebe ich ein Solokonzert. Das ist eine ganz andere Erfahrung! Ich mag das sehr, und natürlich geben mir die größeren Shows, die Genesis Classic-Shows wie heute Abend, die Freiheit, diese kleinen Sachen zu machen, bei denen ich mir keine Gedanken zu machen brauche, ob ich Geld verdiene oder verliere. Es ist einfach nicht wichtig! Und es ist schön, diese Freiheit zu haben. Die kommt – vermute ich – von den, wenn du so willst, kommerzielleren Arbeiten, die ich hin und wieder mache. Das sichert mir das Einkommen, um das zu tun, was ich künstlerisch tun will.

MAS: Was, denkst du, ist der Aspekt, den du Genesis hinzugefügt hast, als du in der Band warst?

Ray Wilson: Ein wenig jugendlichen Schwung, vermute ich! Ich denke, das trifft auch auf Nir Z (Zidkyahu) zu, den Drummer, der mit uns gearbeitet hat. Vor allem, wenn wir live gespielt haben, haben wir der Band ein wenig jugendliche Energie verliehen, die ihnen abging.

MAS: Und als Komponist?

Ray Wilson: Ich denke nicht, dass ich besonders viel dazu gepackt habe. Ich denke, mit mehr Zeit hätte ich es gekonnt.

MAS: Ja! Ich fand, auf `Calling All Stations´ herrschte eine andere Dynamik.



Ray Wilson: Ja. Rückblickend würde ich sagen, es war zu 60 bis 70% ein gutes Album. Der Rest hätte besser sein können. Ein Song wie „Small Talk“, den ich mit ihnen geschrieben habe, war bestimmt keine Glanzleistung. Trotzdem haben sie ihn für das Album ausgewählt. Wenn du dir dagegen so was wie „Solsbury Hil“l anhörst: Das ist eine ähnliche Art von Song, aber umso vieles besser als „Small Talk“!

MAS: Woran liegt das?

Ray Wilson: Wenn ich darauf zurückblicke, denke ich, wir hätten mehr Zeit zusammen gebraucht. Es sind schon einige gelungene Momente drauf. Der Song „Calling All Stations“ selbst ist hervorragend, finde ich. Er besitzt alle Qualitäten, die man von Genesis erwartet. „Not About Us“ ist ebenfalls sehr gelungen. Es steht für sich selbst. Das ist eine andere Art von Song, aber einfach gut! „There Must Be Some Other Way“ ist auch gelungen. Oder „One Man´s Fool“, das Tony verfasst hat.

MAS: Es sind viele „Grower“ auf dem Album!

Ray Wilson: Definitiv. Doch es sind auch Momente darauf, die besser sein könnten, die man vielleicht als Bonustracks hätte verwenden können. Wir hätten noch sechs Monate Ideen entwickeln sollen.

MAS: Apropos Bonustracks: Hast du mal die remasterte Version gehört?

Ray Wilson: Tatsächlich: Nein! Ich bat sie, mir ein Exemplar zu schicken. Haben sie nie gemacht. Ich hatte seinerzeit danach Ausschau gehalten, fand aber keines. Ich habe die Überarbeitung also nie gehört. (lacht herzlich)

MAS: Wie siehst du deine Entwicklung als Songwriter? Setzt du heute andere Schwerpunkte?

Ray Wilson: Wie gesagt: Mir gefällt ein Lied immer dann, wenn es etwas aussagt. Und natürlich ist es, wenn du dich hinsetzt, um ein Album mit 12 oder 15 Songs zu schreiben, echt schwierig, 12 oder 15 interessante Dinge zu finden, zu denen du dich äußern kannst.

MAS: Zumal niemand mehr eine so lange Aufmerksamkeitsspanne besitzt!



Ray Wilson: Ja, die ist heutzutage sehr kurz. Deshalb bewegst du dich normalerweise in den sattsam bekannten Bahnen und schreibst über Liebe und Gefühle wie Wut, Hass oder die Suche nach dem Sinn des Lebens. Da komme ich wieder auf Bruce Springsteen zurück: Er singt immer und immer wieder über dieselben Themen – und ich werde es nie leid! Wenn jeder seiner Songs von Liebe handeln würde – mir wär´s egal! Ich liebe es einfach, mir anzuhören was der Kerl macht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es so gesund ist, das zu überanalysieren. Ich weiß nicht genau, wie stark es darauf ankommt, wovon das Lied handelt, solange der Song selbst Tiefe hat.
Natürlich wäre es schön, lyrisch so kompetent wie Bob Dylan oder Leonard Cohen zu sein. Doch in der Realität hast du als Künstler vielleicht ein oder zwei kurze Momente, in denen du etwas ganz Besonderes kreierst. Dabei bist du aber nicht einmal ansatzweise so beständig wie diese Koryphäen.
Wenn du ein Stück fertiggestellt hast, findest du es grundsätzlich erst einmal gut. Sonst würdest du es gewiss nicht beenden. Du würdest stattdessen zum nächsten übergehen und hoffen, dass dir das besser gelingt.
Es ist schon vorgekommen, dass ich einen Song geschrieben habe, den ich nicht sonderlich mochte, der aber ein Publikumsliebling wurde. Das ist z.B. bei „American Beauty“ passiert. Mir hat der Song nie wirklich gefallen, aber beim Publikum ist er unheimlich beliebt. Ich habe darüber geschrieben, wie sich amerikanische Soldaten im Irak und in Afghanistan fühlen müssen. Was ich versuchte zu sagen, besaß also durchaus eine gewisse Tiefe, aber ansonsten war der Song arg formelhaft und vorhersehbar. Das behagte mir nicht. Aber wie gesagt, der Song ist nun mal äußerst populär, also was ist richtig und was ist falsch? Auf der anderen Seite habe ich ein Stück wie „Another Day“, das musikalisch, textlich und von der Melodie her richtig klasse ist. Wahrscheinlich einer der besten zwei oder drei Songs, die ich je komponiert habe. Und den habe ich vor 20 Jahren geschrieben!


Michael Schübeler



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