Musik an sich


Reviews
Ives, Ch. (Creed)

Psalms (Gesamteinspielung)


Info
Musikrichtung: Klassische Moderne Chor

VÖ: 19.08.2008

(Hänssler Classic / Naxos / CD / DDD / 2007 / Best. Nr. 93.224)

Gesamtspielzeit: 45:15



BEISPIELLOS

Kaum 45 Minuten Spielzeit hat diese Platte mit sämtlichen Psalmvertonungen des amerikanischen Komponisten Charles Ives. Demgegenüber steht eine musikalische Dichte und Innovationskraft, die für das späte 19. Jahrhundert praktisch ohne Beispiel ist. Puritanischer Rigorismus und ästhetische Grenzüberschreitungen schließen sich nicht aus.
Der puritanische Hintergrund Ives‘ macht sich in der ausgesprochen textbezogenen und wortverständlichen Vertonung der biblischen Texte bemerkbar, deren Bilder oft den puritanischen Dualismus von Gott und Welt betonen. Die Musik schreitet Silbe für Silbe voran. Aber die Klang-Sprache ist in den meisten Fällen radikal und neuartig, selbst da, wo sich Harmonien ergeben, die man im traditionellen Kontext deuten kann. Ein hoher Reiz der Stücke liegt gerade darin, dass Ives kein kompositorisches System errichtet, sondern von Werk zu Werk neue Fragen stellt und experimentiert, ohne dass sich daraus immer gleich fertige Lösungen ergeben.

Gleich das Eröffnungsstück, Psalm 90, verwendet neben dem Chor eine Orgel und Glocken. Letztere verschmelzen am Ende des Stücks zu einem gläsern-auratischen Gebilde, das zusammen mit dem Chor von wahrhaft himmlischer Wirkung ist und die späteren typisch Ives‘schen orchestralen Klanglangschaften vorwegnimmt. Die mit Dissonanzen gepfefferte aber dennoch eingängige Harmonik des Chorparts stellt hohe Anforderungen an die Intonationsreinheit der Ausführenden. Nur wenn die heiklen Intervallschichtungen und Fortschreitungen absolut souverän dargeboten werden, erscheinen sie stimmig. Da erweist sich das SWR Vokalensemble Stuttgart unter der Leitung von Marcus Creed mal wieder als nahezu konkurrenzlos, zumal nicht nur richtig, sondern auch mit authentischer Inbrunst gesungen wird.
Wenn man den halsbrecherischen Beginn von Psalm 135 mit seinen chromatischen Schraubendrehungen über einem Prozessions-Rhythmus aus Pauken und Trompeten hört, weiß man nicht, was man mehr bewundern soll: die Einfallskraft von Ives, dessen Synthese unterschiedlichster Stilebenen ohne Vergleich ist, oder die Standfestigkeit der Interpreten, die sich trotz sechsfach geteilter Frauen- und Männerstimmen nicht aus Bahn werfen lassen. In einem solchen polytonalen Kontext wirkt selbst ein schlichter C-Dur-Schluss aufregend.
Vergleichbar grenzüberschreitend und in technischer Hinsicht eine Zu-Mutung ist auch Psalm 54. Männer- und Frauenstimmen werden zunächst in zwei irisierenden harmonischen Wellenbewegungen gegeneinander geführt, dann mit einem exzentrischen (aber schönen) chromatischen Kontrapunkt aufgefächert, um nach dem Zwischenstopp auf einer klassischen Kadenz im letzten Viertel des Stücks erneut scheinbar in die Unendlichkeit weiter zu schwingen. Neben solchen Trouvaillen gibt es auch in den übrigen Stücken immer wieder frappierende Musik. Die geradezu spürbare Hitze, die von den chromatischen Dreiklangsprogressionen von Psalm 150 ausgeht, dürfte man in der Chormusik des späten 19. Jahrhunderts und der aufziehenden 20. Jahrhunderts wohl nicht wieder finden. 1894 ist dieses Stück geschrieben worden, die übrigen in den folgenden Jahren bis 1899. Man möchte es kaum glauben!



Georg Henkel



Trackliste
1Psalm 9010:13
2 Psalm 243:07
3 Psalm 672:30
4 Psalm 1354:53
5 Psalm 144:29
6 Psalm 249:09
7 Psalm 1001:52
8 Psalm 543:31
9 Psalm 1502:02
10 Psalm 423:29
Besetzung

SWR Vokalensemble Stuttgart
Aleksandra Lustig: Sopran
Julius Pfeifer: Tenor
collegium iuvenum: Knabenchor (Friedemann Keck: Leitung)

Mitglieder des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR
Kay Johannsen: Orgel

Marcus Creed: Gesamtleitung


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