Musik an sich


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Henry, P. (Darmon – Mallet)

The Art of Sounds


Info
Musikrichtung: Neue Musik Dokumentation

VÖ: 04.01.2008

(Iuxtapositions / Naxos DVD 1966-2003 Best. Nr. DVD9DS43)

Gesamtspielzeit: 107:00



Reviews

Pierre Henry ist vielleicht nicht der Erfinder der Konkreten Musik. Aber er hat die Kunst der tontechnischen Amalgamierung von aufgezeichneten Klängen und Geräuschen jeder Art zu oft exotisch anmutenden Sound-Collagen entscheidend vorangetrieben. Als Pionier der elektroakustischen Musik reicht sein Einfluss weit in den Bereich der E- und U-Musik hinein. Er gehört zu jenen, die die damals noch ganz neue Ästhetik zwischen Musik und Geräusch aus einer doch mehr klangphilosophischen, theoretischen Ecke herausgeholt und in einer großen Zahl von Werken einem breiten Publikum zugänglich gemacht hat.

Anders als der Gründer des Pariser Studios für elektronische Musik Club d'Essai, Pierre Schaeffer, war Henry von Anfang an vorweisbaren – und auch rentablen – Werken interessiert. Außerdem bezog er synthetische elektronische Klänge in seinen Kompositionen mit ein. Aus der gemeinsamen Arbeit mit Schaeffer ging 1949-1950 zunächst die Symphonie pour un homme seul hervor.
Diese vorproduzierte Musik mit ihrer unerhörten avantgardistischen Klangwelt sorgte für großes Aufsehen, stieß aber auch auf Verständnislosigkeit und Kritik. War das noch Musik? Oder nur Geräusch?
Für Henry blieb die musique concrete freilich kein isoliertes Ereingis; er suchte schon früh den Kontakt zum Film, dem Ballett, der Jazz- und Rock-Musik. Viele Stücke sind multimedial angelegt. Zahlreiche Soundtracks zu experimentellen Hörspielen und auch Filmen stammen von ihm. Mit den Choreographen Maurice Bejart schuf er mehrere Ballette. Ihre erfolgreichste Platte wurde 1967 die Messe pour le temps présent. Die mehrkanalige Mischung aus Jazz und Pop, psychedelischer Elektronik und Geräuschen erzeugt ein eigenes Klanguniversum, dass heute noch Hörer begeistert und provoziert. Spätere Kompositionen nehmen die Welt von Ambient und Techno vorweg. Selbst Beethovens Sinfonien wurden von Henry schließlich einer Über-Hörung unterzogen und zu einer neuen 10. Sinfonie verschmolzen, eine Art Meta-Beethoven.

Unermesslich ist inzwischen das Archiv, in dem der inzwischen über 80jährige Henry seine über Jahrzehnte gesammelten Klänge verwahrt (und mitunter gar nicht mehr wiederfindet). Und unermüdlich jagt der Künstler immer noch mit Tonbandgerät und Stereomikrophonen neuen Klängen nach: „Der Tritt ihrer Füße klingt schön, Monsieur.“ Mit einer solchen Szene beginnt die Dokumentation The Art of Sounds von Eric Darmon und Franck Mallet. Darmon und Mallet haben dazu reiches Dokumentarmaterial eingearbeitet: Konzert-, Ballett- und Filmausschnitte, der junge Henry bei den Proben zu einem neuen Werk, enthusiastische bis gereizte Reaktionen des Publikums nach frühen Aufführungen seiner Musik. Davon hätte es gerne noch mehr sein dürfen!

Die Autoren zeigen Henry in seinem Haus bei der Arbeit, nicht nur an neuen Kompositionen, sondern auch an Collagen aus Elektronik-Schrott, mit denen jeder Quadratzentimeter von Wänden, Fußböden und Tischen bedeckt ist. Gerade in solchen Szenen wirkt er manchmal wie ein glückliches, spielendes Kind, umhegt von seinen Assistentinnen. Ein Kontrapunkt dazu ist der Kommentar des Komponisten, der aus dem Off von seinem Leben erzählt. So verschmelzen die schöpferische Gegenwart und Vergangenheit Henrys zu einem faszinierenden Porträt.
Noch in seinem hohen Alter steht er übrigens auf der Bühne, hinter seinem Mischpult. So erhält jede Aufführung doch wieder ein individuelles Gepräge. Aufschlussreich sind die Einblicke in die oft langwierige und ermüdende Probenarbeit. Henry, der Perfektionist, hält eine ganze Schar Mitarbeiter in Trab, wenn es darum geht, Lautsprecher optimal im Raum zu verteilen und auszurichten. Vertiefen kann man diese Eindrücke übrigens mit der ungeschnittenen Probendokumentation zu Veil of Orpheus (1953), die anlässlich einer Aufführung im Jahr 2003 entstand. Zusammen mit dem Konzert befindet sich das Dokument unter den Extras der DVD. Dort gibt es auch noch den mysteriösen Kurzfilm Le Candidat (1966), zu dem Henry die komplette Tonspur beisteuerte.
Die Dokumentation wendet sich vor allem an ein Publikum, das mit der Musik Henrys ein wenig vertraut ist und die Person und den ästhetischen Kontext von Henrys Werken kennen lernen möchte. Zum ersten Reinhören eignet sich immer noch die Philips-Aufnahme von der Messe pour le temps présent zusammen mit einigen anderen Werken, die es gerade besonders günstig bei JPC gibt.



Georg Henkel



Besetzung

Buch und Regie: Eric Darmon & Franck Mallet


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