Sting

57th & 9th


Info
Musikrichtung: Pop / Rock

VÖ: 11.11.2016

(Interscope / Universal)

Gesamtspielzeit: 48:39

Internet:

http://www.Sting.com


Von Ende 2015 bis Mitte 2016 hat Sting in den sozialen Medien immer wieder Bilder aus dem Studio gepostet. Drei Singles, das eingängige „I Can´t Stop Thinking About You“, das mit einem gemeinen kleinen Lick unter der Grundmelodie begeisternde „50,000“ über 2016 verstorbene Musiker und das für Stings Verhältnisse geradezu wüste „Petrol Head“ heizten die Erwartungen weiter an. „Unpoliert, spontan und energiegeladen, trotzdem tiefgründig“ sollte die elfte Studioarbeit des 65-jährigen Briten werden. Er wollte „musikalisches Ping-Pong“ mit den anderen Musikern spielen.
Unter anderem schloß er sich zum Schreiben von „I Can´t Stop Thinking About You“ in einem eiskalten Raum ein, um sich selbst anzutreiben und nicht herumzutrödeln („My room is 25 below“, „These hands are frozen fists“).

Trotz solcher Entbehrungen im Dienste der Kunst stellt sich mir die Frage, wie viel Spontaneität bei über 20 Mitwirkenden überhaupt möglich ist. Dagegen spricht ebenfalls das Fehlen von „erjammten“ oder wenigstens improvisiert wirkenden Parts. Längere Instrumentalpassagen oder gar Soli? Völlige Fehlanzeige! Da wurde eindeutig eine Chance vertan.
Dabei wurde beim neuen Ablauf der perfekte Weg dafür beschritten: Anstelle eines „künstlichen Zeitrahmens“, in dem alles bis ins kleinste Detail ausgearbeitet und festgelegt wird, bevor man ins Studio geht, sollte diesmal inklusive Songwriting alles in drei Monaten fertig sein. Am Ende waren es zehn Wochen.

Allein aufgrund dieser direkteren Vorgehensweise lässt sich 57th & 9th nicht mit z.B. Ten Summoner´s Tales vergleichen. Es lebt zwar ebenfalls von seinen Kontrasten, diese sind jedoch längst nicht so extrem und vielschichtig wie auf jenem Pop-Kaleidoskop von 1993. Wer aufgrund der langen Wartezeit und der Appetizer ein Opus erwartet hat, das dieses Niveau erreicht, wird von den neuen Songs mit Sicherheit enttäuscht sein.

Denn eines kann weder der glühendste Sting-Verehrer noch Gordon Matthew Thomas Sumner selbst bestreiten: Neues findet sich hier nicht. Aus diesem permanenten Gefühl von Déjà vu, aus Gedanken wie „“One Fine Day“ kann „Brand New Day“ nicht das Wasser reichen!“ entwickelt sich beim Hören die größte Schwäche dieser Platte.
Deshalb finde ich, je unbelasteter man an 57th & 9th – an dieser Kreuzung in New York, die Sting jeden Tag auf seinem Weg ins Studio überqueren musste, entstand auch das Coverfoto – herangeht, umso eher kann man seine trotz allem Schatten vorhandene Qualität erkennen. Das kann aber dauern! Bis man irgendwann merkt, dass die erstaunliche Langzeitwirkung der heimliche Trumpf dieser objektiv durchwachsenen Liedersammlung ist.

Bei „I Can´t Stop Thinking About You“ ist das Konzept, kein Konzept zu haben, voll aufgegangen. Einen so flotten Rhythmus bekommt man im Radio selten zu hören. Coole Tempowechsel mit vielen kleinen Grooves, winzige Variationen und raffinierte Drumfills machen die dreieinhalb Minuten zu einem kleinen Abenteuer. Leider spielt sich das alles arg weit hinter Stings Stimme ab, was speziell über Kopfhörer richtig ärgerlich ist. Warum ist Produzent Martin Kierszenbaum da nicht mutiger gewesen? Natürlich ist die Stimme von Sting unverkennbar, aber nun einmal auch limitiert und ziemlich brüchig. Das Klangbild gereicht ihm also absolut nicht zum Vorteil. Dafür merkt man schnell, wie ungewöhnlich die Gesangslinie ist – und sogar noch schneller, wenn man versucht, den Text mitzusingen...
Apropos: In den Lyrics geht es um die oftmals frustrierende Suche nach Inspiration dargestellt anhand eines Jägers, der im Winter dem Wild nachspürt und dabei mehr als einmal seine Spur verliert. Dahinter steckt die ständige Angst, die Kreativität, die gerade nicht da ist, sei für immer weg.

Allgemein sagt Sting über die Texte, er habe sich „in andere hineinversetzt, um aus sich selbst herauszukommen“. Das klingt nicht nur klasse, es funktioniert sogar so gut, dass die Worte die beiden musikalisch harmlosen bis langweiligen Akustik-Folksongs „Heading South On The Great North Road“ und „The Empty Chair“, in dem es um den von den Pussies der Islamischen Scheiße ermordeten Journalisten James Foley geht, vor dem Absturz in die Belanglosigkeit bewahren. Auch da hat wieder der Mut gefehlt! Warum bloß?!
Das ebenfalls recht flotte, in der Woche, in der Prince starb, geschriebene „50,000“ gefällt mit leisen Strophen. Mir ist klar, dass sich die abrupte Ausblendung auf die Kernaussage „Rock stars never die, they only fade away“ bezieht, aber sie kommt zu früh! Dabei ist 57th & 9th mit 37:05 Minuten in der Standard- bzw. 48:39 Minuten in der Deluxe-Version ohnehin verdammt kurz.
Mit „Down, Down, Down“ folgt der dritte kompakte Pop-Rocksong. „One Fine Day“ über den Klimawandel ist danach längst nicht so aufregend wie das brisante Thema. Erstmals auf dieser Platte muss man Zuflucht zu Zeilen wie „Today it´s raining dogs and cats, rabbits jumping out of hats“ nehmen, um dem Stück etwas abzugewinnen.
Musikalisch gelungen sind ansonsten nur noch „Inshallah“, das sich in kitschiger, aber auch ergreifender Weise mit der Flüchtlingskrise auseinandersetzt, sowie das vibrierende, elektrisierende „If You Can´t Love Me“. Von der Art dieses heimlichen Highlights hätte man gerne mehr gehabt.

Wenigstens ein bisschen mehr bekommt man als Käufer der Deluxe-Ausgabe. „I Can´t Stop Thinking About You“ legt in der LA-Version noch einen Zahn zu. „Inshallah“ aus den Berlin-Sessions klingt noch intimer, speziell Stings Gesang passt hier endlich mal perfekt. Die Live-Version der Police-Nummer „Next To You“ zusammen mit The Last Bandoleros klingt fast punkig und kommt dabei trotzdem spielerisch lässig rüber. Was Drive und Dynamik betrifft, steckt der Oldie alle 12 vorherigen Songs in den Sack. Entlarvend. Denn genau da liegt bei dieser Platte der Hase im Pfeffer.

57th & 9th ist ein Album, das zwar keine neuen, aber lange nicht gehörte Facetten von Sting in komprimierter Form zu Gehör bringt und, quasi als Geheimwaffe, eine erstaunliche Langzeitwirkung entfaltet, die einen dazu zwingt, das hier Gebotene „irgendwie“ gut zu finden (ohne die gäb´s in der Endabrechnung einen Punkt weniger – mindestens!). Und 13 Jahre nach Sacred Love ist dieses Werk überdies der perfekte Einstieg für neue Hörer!



Michael Schübeler



Trackliste
Standard-Version:
1 I Can´t Stop Thinking About You (3:30)
2 50,000 (4:17)
3 Down, Down, Down (3:48)
4 One Fine Day (3:14)
5 Pretty Young Soldier (3:06)
6 Petrol Head (3:32)
7 Heading South On The Great North Road (3:18)
8 If You Can´t Love Me (4:34)
9 Inshallah (4:56)
10 The Empty Chair (2:49)

Deluxe- und Super-Deluxe-Version
11 I Can´t Stop Thinking About You (LA-Version) (3:38)
12 Inshallah (Berlin-Sessions-Version) (4:58)
13 Next To You (with The Last Bandoleros Live at Rockwood Music Hall) (2:54)
Besetzung

Sting – Vocals, Bass, Guitar, Piano, Percussion
Dominic Miller – Guitar, 12-String-Guitar, Shaker
Vinnie Colaiuta – Drums
Rhani Krija – Percussion
Martin Kierszenbaum - Organ, Piano, Mellotron, Keyboards
Rob Mathes – Piano
Lyle Workman – Guitar
Josh Freese – Drums
Jerry Fuentes (of The Last Bandoleros) – Backing Vocals, Vocals, Guitar
Diego Navaira (of The Last Bandoleros) – Backing Vocals, Vocals, Bass
Derek James (of The Last Bandoleros) – Backing Vocals

Zach Jones – Drums
Razan Nassreddine – Additional Vocals
Hazem Nassreddine – Turkish Zither
Marion Enachescu – Violin
Jean-Baptiste Moussarie – Guitar
Salam Al Hassan – Percussion
Accad Al Saed – Percussion
Thabet Azzawi – Oud
Nadim Sarrouh – Oud
Nabil Al Chami - Clarinet


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