Musik an sich


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Stockhausen, K. (Marelli)

HARLEKIN


Info
Musikrichtung: Neue Kammermusik

VÖ: 15.12.2010

(Stradivarius / Klassikcenter Kassel / CD / DDD / 2009 / Best. Nr. STR 33864)

Gesamtspielzeit: 42:49



ANSPRUCHSVOLL UND DOCH KINDERLEICHT

Schaut man sich Fotos des Interpreten auf dem Cover und im Booklet dieser CD an, dann kann man schon bedauern, dass diese Aufnahme von Karlheinz Stockhausens Klarinettensolo HARLEKIN (1975) keine DVD ist, mit der man auch die mitkomponierte Performance anschauen kann. (Wie so etwas aussehen kann, zeigen mehrere Videos auf Youtube.)
Zumindest auf den Standfotos wirkt Michele Marelli als Harlekin absolut überzeugend: Athletisch gespannt wie eine zu allem bereite Sprungfeder - ich musste an die exzentrischen Commedia dell’arte Figuren von Jaques Callot denken – und darum sicherlich eine „lustige“ und „verrückte“, aber keine alberne Figur. Mit dem Clown des italienischen Stehgreiftheaters ist Stockhausens Harlekin denn auch nur noch entfernt verwandt. Dieser neue Harlekin ist ein ganz und gar musikalischer Geist geworden, ausgestattet mit einer ungemein wandlungsfähigen Klarinettenstimme, mit deren Klang der Körper des Interpreten eins geworden ist. Dabei kreiselt, hüpft und tanzt dieser Harlekin auch hörbar, so dass es einmal zu einem regelrechten Dialog zwischen Klarinette und seinen Füßen kommt, die den Boden ebenso differenziert traktieren wie die Lippen und Finger das Instrument.
Das alles kommt derart gestisch und plastisch daher, dass man sich die Aktionen, zu denen auch einige harlekingemäße „Schweinereichen“ gehören (Stockhausen) beim konzentrierten Zuhören immerhin gut vorstellen kann. Zumal Marelli, der hier in die großen Fußstapfen seiner Lehrerin und HARLEKIN-Widmungsträgerin Suzanne Stephens tritt, dem Stück auch nichts an technischer Versiertheit und Spontaneität schuldig bleibt. Vergleicht man seine Einspielung mit der von Stephens, die das Werk 1978 aufgenommen hat (www.stockhausen.org; CD 25), fallen die Unterschiede eher marginal aus. Selbst aufnahmetechnisch ist der Abstand nicht so groß: Bei Marelli klingt alles noch etwas direkter, schärfer und detailreicher; günstig ist das vor allem für die „Nebenklänge“ wie die Fußstampfer.

Für Stockhausen wurde jeder Spieler, der sein 1975 vollendetes Stück spielt, selbst zum Harlekin. Ein gleichsam schamanistisches Ritual der Verwandlung, dass durch die Musik initiiert wird und sich bei jeder Aufführung ereignen soll. Dieser etwas esoterisch anmutende Ansatz verbindet sich mit einem strengen Konstruktivismus: Das ganze Werk beruht auf einer Formel, die sich aus der anfänglichen Spirale heraus entfaltet und am Ende wieder zusammenzieht. Ein vergleichbares Verfahren hatte Stockhausen erstmals 1970 bei seinem Klavierduo MANTRA erprobt. Die Formelkomposition kann man als erweiterte serielle Technik beschreiben: Auch hier liegt eine zwölftönige Reihe zugrunde, auch hier bekommt jeder Ton einen bestimmten Charakter z. B. durch Artikulation und Lautstärke. Allerdings sorgen u. a. Brücken und (Vor)Echos für organische Übergänge. Es entstehen klar definierte Glieder. Die Formel ist eine Art „Melodie-Plus“, die man als Hörer identifizieren kann und die zugleich wie eine DNA die Informationen für das ganze Stück enthält. Jedes Formelglied wird zu einem Großabschnitt entfaltet.
Und so klingt Harlekin trotz aller hintergründigen Komplexität zugleich charmant und kinderleicht, wenngleich das konzentrierte Anhören der rund 42 solistischen Minuten – vor allem ohne Anschauung - sicherlich einige Ansprüche an den Hörer stellt. Statt aus dem Stück eine reine Lauschübung zu machen, sollte man sich vielleicht einfach mal von der Vitalität dieser immer noch neuen Musik anstecken lassen und dazu live seine eigene Choreographie realisieren …



Georg Henkel



Besetzung

Michele Marelli: Klarinette


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