Musik an sich


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Verrando, G. (Valade)

Orchesterwerke


Info
Musikrichtung: Neue Musik Orchester

VÖ: 28.09.2011

(Stradivarius / Klassik Center Kassel / CD / DDD / 2007 / Best. Nr. STR 33788)

Gesamtspielzeit: 51:39



FLUTEN UND WOGEN

Angesichts so vieler neuartiger Klangwelten, die im 20. Jahrhundert im musikalischen Universum entdeckt wurden, muss ein zeitgenössischer Komponist schon sehr weit fliegen, um noch Neuland zu erforschen. Es spricht freilich nichts dagegen, bereits bekannte Planeten anzusteuern und noch einmal genauer zu erkunden. Denn wer weiß, was unter der Oberfläche noch alles zu entdecken ist?

Der 1965 geborene Giovanni Verrando kennt sich aus im System der Klangflächen oder -raummusik; er weiß um das Raffinement elektronischer oder spektraler Klangaufspreizungen und –mischungen. Mit diesen Mitteln sucht er nach Möglichkeiten, das klassische Orchester, das doch eigentlich für die Musik des 19. Jahrhundert geschaffen wurde, neu klingen zu lassen. Die Suche nach einem neuen Orchesterklang hat freilich schon Komponisten wie Edgar Varese, Karlheinz Stockhausen oder György Ligeti umgetrieben. „Ameriques“, „Gruppen“ und „Atmospheres“ sind zu Recht zu Klassikern geworden. Verrando bietet denn auch keine grundsätzlich neue Klangwelt, sondern eher Synthesen verschiedener Schulen und ihres Vokabulars, die nicht ganz frei von epigonalen Anmutungen sind.

Mit ihren raffinierten Klanmischungen demonstrieren die vier hier aufgenommenen Stücke das große handwerkliche Können des Komponisten. Um die ungewöhnlichen Farben und Texturen zu kreieren, wurden mitunter erst elektronische Klänge erzeugt und diese dann in einem zweiten Schritt für das Orchester auskomponiert.
Bei Tryptich ist es kaum vorstellbar, dass die scharfen, hochtönenen Zisch-, Pfeif- und Schnarrlaute, mit denen das Stück beginnt, nicht wirklich konkrete oder elektronisch imitierte Maschinenklänge vom Band sind. Und selbst wenn dann erkennbar Orchesterklänge aufbranden, klingen sie doch eher wie ein Negativ typischer instrumentaler Sounds. In diese artifiziell verfremdeten Klänge mischt Verrando gerne kenntlichere, „grobkörnigerere“ Texturen, die dann wie Zitate aus einer anderen Welt anmuten.
In Tryptich sind dies z. B. gezupfte Tön vom E-Bass, die wie durch akustische Störungen verzerrte Radiosignale wirken. Oder es gibt Einsprengsel, die an Minimalmusic oder an uhrwerkartige Vorgänge erinnern. (Bei letzteren stand Ligeti Pate, was man bis in einzelne Gesten und Instrumentationskniffe hinein hören kann. Dies gilt auch für bestimmte, an „Lontano“ gemahnende harmonische Progressionen im 3. Abschnitt. Derartige Assoziationen kann man auch bei den übrigen Stücken bekommen.)
Für Sottile übernimmt im ersten Satz das Soloklavier eine vergleichbare Aufgabe, wenn es den vibrierenden Hintergrund mit irregulären rhythmischen Mustern „durchsticht“. Sottile verwendet übrigens auch elektronische Klänge, wobei aber die Grenzen so fließend sind, dass der Hörer die akustischen und künstlichen Sounds praktisch nicht unterscheiden kann.
In Polyptych werden die Instrumente elektrisch verstärkt. Das Stück erinnert mit seinen abrupten Aussetzern an eine Langspielplatte mit Sprung. Solche Irritationen hat Verrando auch in die anderen Stücke eingebaut. Die mal wildbewegten, dann wieder feinziselierten Verästelungen von Agile wurden für ein unmanipuliertes Orchester komponiert. Typisch ist auch hier das Spiel mit spektral aufblühenden Orchesterflächen, in die dann Kontrastklänge – in diesem Fall wie von einer Stanze oder Schreibmaschine - montiert werden.

Das alles ist ergibt zwar keinen ganz neuen Orchesterklang, die Referenzen sind bekannt; auch erschöpft sich die Musik nach einiger Zeit in einem an der Oberfläche aufgerauten Wogen und Fluten der Klänge. Gegenüber den Altmeistern fällt eine Verfeinerung aber auch Glättung auf. Der drohende Verschleiß des Materials bleibt das Problem aller stilistischen Einseitigkeiten. Doch wegen seiner gekonnten Machart und der präzisen, klangsinnlichen Umsetzung durch das Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI unter Pierre-André Valade kann man diese rund 50 Minuten sehr wohl goutieren.



Georg Henkel



Trackliste
01-03 Tryptich (2005-2006) 15:16
04-06 Sottile (1996-1997) 12:17
07-08 Agile (2004) 12:43
09-12 Polyptych (2007) 11:23
Besetzung

Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI

Pierre-André Valade: Leitung


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