Musik an sich


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Händel, G. F. (Mehta – Jacobs)

Ombra Cara


Info
Musikrichtung: Barock Opernrecital

VÖ: 12.11.2010

(Harmonia Mundi / Harmonia Mundi / CD & Bonus-DVD / DDD / 2009 / Best. Nr. HMC 902077)

Gesamtspielzeit: 71:16



FACETTENREICH

Um ehrlich zu sein, hat mich die Stimme des Countertenors Bejun Mehta (Jg. 1968) zunächst gar nicht sonderlich beeindruckt. Das liegt gewiss auch daran, dass falsettierende Männerstimmen im Barockgesang inzwischen Gang und Gäbe sind und der Reiz des Neuen sich kaum mehr einstellen möchte.
Was die Beherrschung der Finessen des barocken Belcanto angeht, ist Mehta sicherlich über jeden Zweifel erhaben. Doch jene suggestive, oft auch schillernde Klangaura, die die Stimmen seiner besten Kollegen in ihren stärksten Momenten auszeichnet, fehlt ihm scheinbar. Mehtas Stimme charakterisiert nicht die opake Sinnlichkeit eines Andreas Scholl, die knabenhafte Reinheit eines Philippe Jaroussky oder die Androgynität und Durchschlagskraft eines Max Emanuel Cencic. Mehtas Stimme wirkt in diesem Sinne neutraler, „objektiver“.
Der Sänger hat lange gebraucht, um sich - nach dem Verlust seiner reifen, sehr schönen Knabenstimme, die man noch auf dem 1983 veröffentlichten Album Bejun hören kann – eine neue Identität als Altist zu erarbeiten. Dass er sich fünf Jahre lang als Bariton versucht hat, hört man insofern, als dass auch seine Falsettstimme vor allem in der Tiefe ein starkes Fundament hat – für einen Countertenor keine Selbstverständlichkeit. Überhaupt scheint der Umweg über den Bariton die insgesamt virile Ausstrahlung seiner Stimme begünstigt zu haben.
Man muss schon mehrere Arien seines Solo-Debüts beim Label harmonia mundi hören, um zu erkennen, dass das oben angesprochene Fehlen eines unverwechselbaren androgynen Tons keine Beschränkung, sondern eine Stärke von Mehta ist. Denn wo die anderen Sänger meist nur ihre eine Stimme mit ihrer gewiss schönen Grundfarbe zur Verfügung haben, kann Mehta sehr viel flexibler auf den besonderen Charakter der jeweiligen Arie eingehen und dem Stück geben, was es an Drama braucht. Das ist nicht immer ein schöner, aber doch ein wahrhaftiger Ton. Im Grunde verfügt er über mehr Schattierungsmöglichkeiten als mancher seiner Kollegen, wobei er diese Möglichkeiten bei den langsamen Nummern auf dieser CD am eindrucksvollsten ausspielt.

Die stupende Virtuosität von Sento la gioia aus der Oper Amadigi di Gaula beispielsweise verharrt mehr im konzertanten Wettstreit mit der Trompete und die Freude am Singen bleibt noch etwas mechanisch. Die großen Intervallsprünge fordern ihren Tribut – das Timbre wirkt dann etwas gestresst, den Tönen fehlt es an Luminanz. In den großen Klage- und Wahnsinnszenen aus Radamisto, Orlando oder Tolomeo dagegen erreicht Mehta ein Konzentration und Dichte des Ausdrucks, die den Schmerz ebenso wie den das Bewusstsein trübenden Furor der Figuren beglaubigen. Exemplarisch, wie er den Ton aus dem Nichts heraus anschwellen lässt – messa di voce – und die melodische Linie z. B. der episch langen Arie Ombra cara mit subtilen Schraffuren des Timbres, dem wohldosierten Einsatz des Vibratos und feinen dynamischen Nuancierungen gestaltet.
Dass Mehta keines der üblichen Best-Off-Händel-Programme zwischen Rinaldo, Giulio Cesare und Xerse, sondern fast ausnahmslos Nummern aus „Raritäten“ zusammengestellt hat, die freilich genauso hörenswert sind und ein facettenreiches Porträt des Komponisten zeichnen, spricht für seine künstlerische Vision. Auch die Anordnung der Stücke ist dramaturgisch sinnvoll. In René Jacobs hat Mehta eine verwandte Seele gefunden. Jacobs erweist sich auch bei einem solchen Nummernprogramm wieder einmal als einer der besten, da einfallsreichsten und theaterwirksamsten Händel-Dirigenten. Keine Nummer wird einfach so runtermusiziert; noch auf kleinstem Raum kann sich ein affekt- und effektvolles Minidrama entfalten. Hut ab auch vor der famosen Leistung des Freiburger Barockorchesters. Die instrumentale Inszenierug ist schlicht mustergültig und lässt die Beschränkungen des barocken Orchestersatzes vergessen. Man höre nur die zugespitzten Streicherklänge in der Klage des Ottone im Vergleich zu den weichen Schattenfarben bei einem Gegenstück aus der Oper Tolomeo oder die weite Staffelung an Farben und Tempi, mit denen die Wahnsinnsszene des Orlando ausgemalt wird. Die somnambule Verlangsamung der ariosen Abschnitte der letzteren wirkt wie eine Vorahnung der Opern des frühen 19. Jahrhunderts. Nicht weniger plastisch wird ein pastorales Idyll wie dasjenige von Cun rauco mormorio gestaltet. Nachdem Mehta noch einmal mit Fammi combattere ein leidenschaftliches Koloraturenfeuerwerk gezündet hat, schließt das Programm mit dem seligen Duett Per le porte del tormento aus der Oper Sosarme, wo er im leuchten Sopran von Rosemary Joshua ein ebenbürtiges Gegenstück hat.
Eine Bonus-DVD gewährt Einblicke hinter die Kulissen der Produktion.



Georg Henkel



Trackliste
1Amadigi di Gaula
2 01Sento la gioia
3 Agrippina
4 02 Otton, otton
5 03 3 Voi, che udite il mio lamento
6 Riccardo Primo, Re d'inghilterra
7 04 Agitato da fiere tempeste
8 Tolomeo, Re di Egitto
9 05 Che più si tarda omai - Inumano fratel
10 06 Stille amare
11 Orlando
12 07 Ah! Stigie larve - Già latra Cerbero - Ma la furia - Vaghe pupille
13 Rodrigo
14 08 Passacaille (Ouvertüre)
15 Radamisto HWV
16 09 Ombra cara di mia sposa
17 Rodelinda, Regina de Longobardi
18 10 Fra tempeste funeste
19 11 Cun rauco mormorio
20 Orlando
21 12 T'ubbidirò, crudele - Fammi combattere
22 Sosarme, Re di Media
23 13 Per le porte del tormento
Besetzung

Bejun Mehta: Altus
Rosemary Joshua: Sopran

Freiburger Barockorchester

René Jacobs: Leitung


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