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Artikel

Gemalte Klänge vom KAMMERFLIMMER KOLLEKTIEF

Info

Gesprächspartner: Kammerflimmer Kollektief

Zeit: Januar 2010

Interview: E-Mail

Stil: Post Rock / Psychedelic / Ambient / Jazz

Internet:
http://www.kammerflimmer.com/

Oder besser fotografierte, denn die Cover des aus Karlsruhe stammenden Ensembles Kammerflimmer Kollektief bestehen (seit der Veröffentlichung des vierten Albums Cicadidae 2004) aus Kunstfotografien, die eine ähnliche Wirkung erzielen wie die Musik: Neugier, Schockiertheit, Zerbrechlichkeit. Und ganz nebenbei stammen sie von Keyboarderin und Sängerin Heike Aumüller.

Die Karlsruher Band, bereits seit Ende der Neunzieger unterwegs und mit dem aktuellen Album Wildling bereits mit dem achten Album am Start, sucht nicht nach Trends oder Ähnlichem, es sucht nach Ihren eigenen Klängen. Diese produziert die Band schon seit Anfang an, von Album zu Album ambitionierter und perfekter und auch wohlklingender. Das scheint, auch wenn diese Entwicklung von Album zu Album hörbar war, ebenfalls in nicht geringen Maße mit Heike Aumüller zusammenzuhängen, denn seit dem Sie Ihre Kayboards, Instrumente und vor allem Stimme beisteuert, werden die nach wie vor vorhandenen Experimente und Improvisationen in einen ambienten Soundteppich gebettet. So präsentiert das Kammerflimmer Kollektief auf Wildling wiederum schwebende Klänge mit hohem Improvisationsanteil und trotzdem einer unglaublichen Zugänglichkeit.

Doch zunächst einmal der Werdegang der Band in kurzen Worten:
Das Karlsruher Kammerflimmer Kollektief war zu Beginn ein reines Soloprojekt von Thomas Weber. Er experimentierte mit seinem Hauptinstrument, der Gitarre, und verschiedenen elektronischen Klangerzeugern und aus diesen Aufnahmen entstand das erste Album „Mäander“, welches 1999 erschien.
Schon dieses erste Werk erreichte Akzeptanz bei der schreibenden Zunft, so urteilte The Wire:
"Instrumental drones & central european freakouts on violins and reeds. A kind of European down home NoWave"
Thomas Weber selbst nannte es einfacher „eine Free Jazz-Simulation mit Pop-Appeal.“
Schneller als gedacht fanden sich Musiker, das Experiment auch auf die Bühne zu bringen. So gruppierten sich im Jahr 2000 Johannes Frisch am Kontrabass; Dietrich Foth an diversen Saxophonen; Heike Wendelin an der Violine; Michael Ströder am Schlagzeug & Anne Vortisch am Synthesizer. Diese Besetzung ging auf Tour, als Grundlage für die Livedarbietung diente eben „Mäander“, zu dessen Tracks freudig improvisiert wurde.
Aus diesen Live erarbeiteten Tracks entstand dann das zweite Album Incomunicado, welches im Jahr 2000 veröffentlicht wurde.
Die SPEX urteilte seinerzeit: "Es wird der Eindruck vermittelt, das hier mit Konsequenz und Leichtigkeit freier Jazz, ungefähr der Marke Pharaoh Sanders und Cecil McBee anno 1969, in einen Kontext transformiert wird, in dem er auf Pop und Elektronik trifft. Was vom Postrock verhießen wurde, improvisierte Musik jenseits von Genregrenzen zu entwickeln, könnte das Kammerflimmer Kollektief verwirklichen."
Das dritte Album Hysteria erschien 2001 in Japan und den USA und wurde 2004 auch auf Quecksilber veröffentlicht. Es war ein Hybrid aus den beiden vorangegangenen Alben: eine Synthese von Solo-Studioarbeit und kollektivem Rausch.
Martin Büsser schrieb dazu in testcard: "Mir ist keine bislang bessere Veröffentlichung an der Schnittstelle von Jazz und elektronischer Musik bekannt als diese kurze und zugleich ausgereifte Platte des Kammerflimmer Kollektiefs. Im Crossover zwischen großer Free Jazz-Tradition (Alan Silva, früher Charlie Haden), Kraut- und Free Form-Rock (Third Ear Band, Neu!) und This Heat'scher Klangverwischung stimmen nicht nur die Bezugspunkte, sondern was viel wichtiger und zugleich so ungemein seltener ist: vor allem deren neuartige, begeisternde Zusammenfügung."

Nach diesem Album gab es Veränderungen im Line-Up der Band, Michael Ströder & Anne Vortisch verließen das Kollektief, dafür kamen Heike Aumüller am Harmonium & Soundprocessing / Songwriting und Christopher Brunner an Schlagzeug & Vibraphon hinzu.
Diese Besetzung machte sich sogleich an die Arbeit für das vierte Album, welches dann 2003 unter dem Titel Cicadidae erschien. . Die Grenzen zwischen analogen und digitalen, akustischen und elektronischen Elementen verschwammen zusehends: Karlsruher Psychedelic stand irgendwo geschrieben.
Ulrich Kriest dazu in Intro: "Das Kammerflimmer Kollektief gewährt nach den Entwürfen jetzt einen Blick auf das komplette Bild, es ist eine Collage. Ein profunderes Album werden wir dieses Jahr kaum mehr zu hören bekommen. Zukunftsmusik, schon jetzt realisiert, aus Karlsruhe. Wer hätte das gedacht?"
Zu diesem Album verfasste dann auch Autor und Journalist (unter anderem zwei Jahre Chefredakteur der SPEX) Dietmar Dath die Linernotes. Wohl der Beginn einer Verbundenheit, die 2009 in dem Projekt Der erwachte Garten münden sollte. Doch dazu später mehr.
Bevor 2005 mit Abecencen das 5. Album erschien, gab man noch eine Reihe von Konzerten. Mit Abecencen ging der Weg, immer mehr „echte“ Instrumente anstelle von Samples einzusetzen weiter. So nahm man sich für diese Produktion noch einen weiteren (Steel)-Gitarristen (Martin Siewert) und zwei Blasinstrumente (Helmut Dinkel & Pirmin Ullrich) hinzu.
Die SPEX zollte dem Album großen Tribut mit den Worten: "Die unmäßige Energie, die in dieser Musik steckt, bricht nicht aus, bleibt immer Ahnung und Andeutung. Die fehlende Explosion, diese unterschwellig bleibende Ekstase, ist zu milder Schwermut geronnen. Dennoch ist die Musik unmittelbar versöhnlich und zugänglich, niemals bitter oder bösartig. Selten war eine Musik so unverschämt reich, so überschäumend, so widerspenstig im Detail und gleichermaßen auch so dunkel, so sentimental, so gefühlig, so unmäßig sehnsüchtig."

Das 2004 gestartete Experiment, neben der Sechserbesetzung auch in kleineren Konstellationen zu spielen, mündete dann schließlich in der bis heute gültigen Besetzung des Kollektiefs aus Heike Aumüller, Johannes Frisch und Thomas Weber.
Mit Jinx veröffentlichte dieses Trio dann die bis dahin wohl am meisten ausgefeilte Platte. Auf diesem Album begann Heike Aumüller mit Ihren wie ein Instrument eingesetzten Gesang, die dem Ganzen eine weitere Dimension mit hinzu.
Neben sehr eingängigen Soundlandschaften gibt es hier aber auch immer noch dunkle Psychedlik, die verstört wie das ebenso zerbrechliche wie gewaltige „Subnarkotisch“ (Eine ausführliche Beschreibung zu den Alben des Kammerflimmer Kollektiefs wird in der nächsten Ausgabe der MAS erscheinen).
Nach diesem Werk erschien dann 2009 die bereits erwähnte Zusammenarbeit mit Dietmar Darth. Bei Der erwachte Garten handelt es sich nicht um ein Album in herkömmlichen Sinn, es ist ein Hörbuch, Dietmar Darth liest eine seiner eigenen Geschichten und an manchen Stellen gibt es Musik vom Kammerflimmer Kollektief. Diese Zusammenarbeit funktioniert sehr gut, die doch oftmals „sehr weit draußen“ angesiedelte Musik unterstützt den gelesenen Text perfekt.
Und nun erscheint nur kurze Zeit später mit Wildling das 8. Album der Band. Es ist nicht nur das am ausgereifte, was das Kollektief bisher veröffentlicht hat, nein es setzt auch Maßstäbe in den Bereichen des Postrocks, der Ambient Musik oder wie auch immer man diese wundervollen Klänge einstufen will.
Sagen wir einfach,, es ist das Kammerflimmer Kollektief!

Und fragen wir den Gründer Thomas Weber.

WK: Hallo Thomas, zunächst einmal möchte ich Dir zu Eurem tollen neuen Werk Wildling gratulieren. Eine wirklich fantastische Musik. Bevor wir jedoch auf das Album eingehen, möchte ich Dich bitten zunächst einwenig über Deine Person zu erzählen.

TW: Danke. Ich bin wahlweise der Idiot auf dem Berg, oder ein kleines rollendes Steinchen. Who knows, fewer care!


WK: Kommen wir zu dem neuen Album. Wildling klingt trotz aller Experimentierfreudigkeit unglaublich eingängig, streckenweise schon richtig poppig. Wie seit Ihr an das Album herangegangen? Hattet Ihr fertige Kompositionen oder wurde das Album über Improvisation erarbeitet?

TW: Vorher wissen wir nichts. Hinterher manchmal mehr. Die Herangehensweise ist bei vielen Stücken ähnlich: "Sittin & Thinkin’", dann spielen und improvisieren, prüfen, editieren. Und dann: wieder prüfen. Manchmal wird dann wieder dekonstruiert, anschließend rekonstruiert, solange bis es richtig wird. Im Unterscheid zu einer Live-Performance bei der die Schwerpunkte eher in der Improvisation und der Gruppendynamik liegen, geht es bei der Arbeit im Atelier, im Studio und am Rechner eher langsamer und meditativer zu: "When you are working", sagt John Cage, "everybody is in your studio - the past, your friends, the art world, and above all your own ideas … But as you continue painting, they start leaving, one by one, and you are left completely alone. Then, if you’re lucky, even you leave."

WK: In wie weit arbeitet Ihr mit Overdubs bzw. mit moderner Software wie Protools oder ähnlichem?

TW: Pro Tools und Logic sind natürlich Werkzeuge & Produktionsmittel, die vieles vereinfachen und stets für viel weniger Geld als ein Studio verfügbar sind, ob es immer besser wird dadurch, ist eine andere Frage.

WK: Im Gegensatz zum Vorgängeralbum (ich meine hier Jinx, da für mich Der erwachte Garten mehr ein Nebenprojekt ist) scheinen mir die Improvisation bzw. Freestyle Parts diesmal stärker in den Synthesizerflächen eingebettet zu sein. Im Ergebnis gibt das für mich die perfekte Symbiose aus diesen Stilen. Wolltet Ihr bewusst stärker in diese Richtung oder hat sich das ergeben.

TW: Das Kammerflimmer Kollektief macht Musik, die man nicht aufschreiben sollte, weil sonst das Papier verbrennt, steht dann doch irgendwo geschrieben. Hm. Wir haben keinen Masterplan & keine Agenda, wir arbeiten intuitiv: Wohl am besten beschreibt der Begriff Psychedelia für uns die freigeistige Mischform aus psychoakustischem und intuitivem Mäandern zwischen Improv und Loop einerseits - und einer sich nur fast auflösenden Songform andererseits. Bewußtseinsverändernd, immer zwischen Präzision und Freiheit hängend, ohne Eskapismus. Und nein, wir nehmen kein Acid!

WK: Bitte versuche mir zu erzählen, wie ein Stück wie "In Transition (Version)" entsteht.

TW:"In Transition" besteht aus einem digitalen Grundgerüst (einem Bordun-Loop) und einem komplett mit Kontrabass, Synthesizer und Slide-Gitarre live improvisierten Take, den wir zu Dritt direkt auf Band aufgenommen haben. Am Rechner habe ich anschließend alles zusammengefügt und poliert. Die Violinen, die du in deiner Rezension hörst, sind in Wirklichkeit unser Kontrabassist, wenn er in den hohen Lage wahnsinnig wird.

WK: Bitte erzähle ein wenig über die Zutaten des längsten und improvisationsreichsten neuen Stücks “There is a crack in everything!

TW: "There's A Crack In Everything" ist eine Studio-Kinda-Cloudy-Collage aus einem Bass-Loop & einer Live-Improvisation mit Gesang/Synthesizer, Gitarre und Kontrabass. Der Rest ist Schall und Wahn.

WK: Aus den Linernotes zu Wildling ist zu entnehmen, dass Heike Aumüller tatsächlich komplette Texte darbietet. In meinen Ohren ist die Stimme mehr ein weiteres Instrument. In wie weit sind Texte für das Kammerflimmer Kollektief wichtig?


TW: Die Stimme wird auch als Instrument eingesetzt, und unwichtiges kommt auf keine Aufnahme, nie nicht! Unwichtiges wird immer sofort gelöscht. Die Gitarren werden zu den Gänsen auf dem See gestimmt. Und der Bass spielt zumeist subnarkotisch.


WK: Kannst Du etwas zu den Inhalten der Texte sagen?


TW: Die Texten sind aus "Träumen, Schemen und Themen", wie der "Song and dance man" in seiner "Theme Time Radio"-Sendung so schön zu sagen pflegt. Was die Texte bedeuten könnten, darf der wollende Hörer selber herausfinden. Ich weiß es nicht. In gewisser Weise sind es Versuche, sich an das Format Song heranzutasten, oder besser: uns vor dem Format zu verbeugen. Ich lese gerade "Where Dead Voices Gather", Nick Tosches’ Buch-Meditation über Emmett Miller, dem verschütt gegangenen ›blackface minstrel performer‹. Tosches versucht sich darin an der geheimen Geschichte einer amerikanischen Musik und erklärt die Welt according to a song:

"And, of course, that is what all of this is - all of this: the one song, ever changing, ever reincarnated, that speaks somehow from and to and for that which is ineffable within us and without us, that is both prayer and deliverance, folly and wisdom, that inspires us to dance or smile or simply to go on, senselessly, incomprehensibly, beatifically, in the face of mortality and the truth that our lives are more ill-writ, ill-rhymed and fleeting than any song, except perhaps those songs - that song, endlesly reincarnated - born of that truth, be it the moon and June of that truth, or the wordless blue moan, or the rotgut or the elegant poetry of it. That nameless black-hulled ship of Ulysses, that long black train, that Terraplane, that mystery train, that Rocket ›88‹, that Buick 6 - same journey, same miracle, same end and endlessness."



WK: Kannst Du mir Deine / Eure musikalischen Vorbilder / Inspirationen benennen. Was hörst Du im Moment selber gern?

TW: Vorbilder gibt’s wenige, Inspirationen mehr als genug. Im Moment höre ich gerade viel das Album "Veedon Fleece", Van Morrsions "stream of consciousness" Meisterwerk von 1974. Dort gibt es diese geisterhafte und wunderbare Verbindung zwischen "Linden Arden Stole The Highlights", das aufhört mit "He said 'Sometime it may get lonely', now he's living with a gun" und dem folgenden Song "Who Was The Masked Man", das im Strom bleibend eröffnet mit den im falsetto gesungenen Zeilen "Oh, ain't i lonely, when you're living with a gun." Für sowas wurde die blöde Shuffe-Funktion nicht erfunden: I have the gun, too!


10.Gibt es musikalische Nebenprojekte?

TW: Nope!



WK: Wie setzt Ihr Eure Musik Live um? Präsentiert Ihr stark abweichende, improvisierte Versionen Eurer Songs?

TW: In der Tat: bei der Live-Präsentation gibt es einige Abweichungen: die Schwerpunkte liegen dann eher in der Improvisation und der Gruppendynamik.


WK: Was gibt es bei Euren Live-Darbietungen für visuelle Unterstützung?

TW: Nein, kommt nicht in Frage bei uns.


WK: Ihr habt mit Wildling"
inzwischen das 8. Album vorgelegt. Das zeugt davon, dass Sich Eure Projekte zu mindest tragen. Wie erfolgreich sind Eure Projekte tatsächlich? Habt Ihr auch Fans im Ausland?

TW: Was wäre Erfolg für Dich?
Fans im Ausland gibt es zum Glück viele.


WK: Für mich wäre Erfolg, wenn ich von der Kunst, die ich betreibe, leben könnte
und die nächsten Projekte finanzieren könnte. Und natürlich auch, wenn ich
sehen könnte, dass, das, was ich tue, andere erreicht.
TW: Was ist schon Erfolg, ein bisschen Geld verdienen, das morgen vielleicht schon nichts mehr wert sein wird und sowieso noch nie glücklich gemacht hat. Es sind finstere Zeiten, es ist "anders als glücklich", wie Kristof Schreuf singt. Wenn wir mit unserer Musik ein bisschen Sinn stiften könnten, wäre ich schon zufrieden.


Es stimmt schon, die Musik der Karlsruher zu beschreiben ist ziemlich schwierig, wenn nicht unmöglich. Könntet Ihr auf Anhieb ein Stück wie Sprit of Eden von Talk Talk in Worte fassen? Oder von dem leider einzigen Japan Nachfolgeband Album Rain Tree Crow? Da hilft nur selber hören, und dies sei dem Leser wärmstens empfohlen, entweder das neue Album oder aber Live, die Termine könnt Ihr den Tourdaten entnehmen.

Wolfgang Kabsch


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