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MESSIAEN hören

POPBUNTE SINNLICHKEIT

Es brauchte einige Anläufe und auch Hörpausen, bis ich Messiaens Ausflügen in musikalische Fabelwelten ganz verfallen war. Ich weiß noch genau, wie ich mir ganz unbefangen in den 80er Jahren eine erste Messiaen-Aufnahme zugelegt habe, noch ohne eine Note zu kennen. Es war die riesig und extravagant besetzte Turangalîla-Sinfonie aus dem Jahr 1948. 10 Sätze, rund 90 Minuten Dauer. Am Pult des City of Birmingham Symphony Orchestras stand Simon Rattle (EMI, nach wie vor eine Referenz unter den zahlreichen Interpretationen).
Der erste Hörkontakt war ein Schock. Popbunt klang das, hemmungslos, erregt, dionysisch, schwer verdaulich. Andere hätten aus der Fülle von Einfällen ein Lebenswerk gemacht. Der Hörer bliebe im Zweifel darüber, ob die geistigen Wurzeln der Musik nach Surabaja, Lourdes oder Hollywood führten, fasste das einmal ein deutscher Kritiker etwas naserümpfend in Worte.

Dabei war Messiaen seiner Zeit lediglich voraus. Die musikalische Postmoderne beginnt mit diesem Werk und lässt viele Kompositionen der nachfolgenden Avantgarde schlicht grau und akademisch aussehen. Das meiste dort ist lediglich strukturbewusst und klingt Schwarz-Weiß. Messiaen dagegen hält mit Emotionen und Farben nicht hinter dem Berg, er schwelgt in melodischen Erfindungen und entfesselt rhythmische Energien, die sich unmittelbar auf den Hörer übertragen. Bei einem guten Konzert vergieße er wenigstens einmal Tränen der Ergriffenheit, bekannte der Komponist.
Thema der Turangalîla-Sinfonie sind alle Dimensionen körperlicher und geistiger Liebe im Spannungsfeld von Zeit und Ewigkeit. Eine Liebe, die alles irdische Maß sprengt und schließlich durch den Tod hindurch muss, um sich zu erfüllen. Klavier und Ondes Martenot, eine frühe französische Version des Synthesizers, stehen solistisch im Zentrum des Geschehens. Das Ondes Martenot klingt wie eine Mischung aus singender Säge und menschlicher Stimme. Es ist in der Lage, in einem Augenblick in lichter Höhe zu jublieren, laserstrahlfeine Koloraturen zu produzieren und im nächsten Moment plötzlich aufheulend in dunkle, grollende Tiefen abzustürzen. Schenll denkt man da an die SF-Soundtracks der 50er Jahre.
Das Klavier ist bei Messiaen oft ein supervirtuoses harmonisches Rhythmusinstrument. Der Rhythmus war eines seiner Steckenpferde; die Macht des Komponisten über die Zeit, die gemessene wie die psychologische, hat ihn fasziniert. Herausgefordert hat ihn die Vorstellung von der Ewigkeit Gottes. Wie kann man die Zeit in der Musik aufheben? Durch extreme Dauern, durch sich wiederholende Muster, durch die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeiten.
Indem er den Rhythmus vom melodischen und harmonischen Verlauf trennte, schuf er "rhythmische Charaktere", die wie Personen auf- und abtreten und sich durch Addition- und Substraktion rhythmischer Werte verändern. Igor Stravinsky hatte so etwas bereits im Finale seines Ballets Le Sacre du printemps (1913) gemacht. Viele Anregungen verdankt Messiaen aber auch der griechischen und sehr komplexeren indischen Rhythmik. Im 5. Satz der Turangalîla, "Joie du Sang des Étoiles" (Die Freuden des Blutes der Sterne), wird ein solches rhythmisches Drama in mehreren Schichten inszeniert. Der Eindruck ähnelt dem eines Feuerwerks, auf dessen Höhepunkt ganze Batterien von Leuchtkörpern unterschiedlicher Größe aufsteigen und die farbigen Explosionen sich überlagern und durchkreuzen. Eine Orgie, die - allen Beteuerungen des Komponisten zum Trotz - auch dem sinfonischen Jazz seine Reverenz erweist.
Messiaen ist mit solchen jubilierenden Verschmelzungen von Geist und Materie, von Zärtlichkeit und Klanggewalt vielleicht der letzte Barockkomponist Europas gewesen. Die Freude ist der beherrschende Ausdruck in seiner Musik: "Ich bin ein Mann der Freude." Und: "Natürlich existiert das Leiden auch für mich, aber ich habe nur wenige schmerzliche Stücke geschrieben. Ich bin dafür nicht geschaffen. Ich liebe die Herrlichkeit und die Freude im himmlischen Sinne."
Das Mindesthaltbarkeitsdatum scheint bei dieser Sinfonie auf jeden Fall noch nicht abgelaufen zu sein, sie hat sich seinen Platz im Repertoire erobert.

EINKLANG VON HIMMEL UND ERDE

Geistliches und Weltliches sind in Messiaens Kosmos keine Gegensätze. Ähnlich sinnenverwirrend und esoterisch wie Turangalîla nehmen sich auch die Trois petites liturgies de la presence divine von 1944 aus, die ganz selbstverständlich eine ins Asiatische übersetzte Gregorianik (Frauenchor) mit westlich transformierter Gamelan-Musik, Vogelmotiven, Elektronik und Streichern kombinieren und daraus einen überschwänglichen Sakralsound kreieren. Die einstimmigen, schier unendlichen Melodien des Chors irritieren in ihrer Verbindung von harmonischer Raffinesse und naiv-schwärmerischer Frömmigkeit. Das Ganze ist aber völlig ernst gemeint und wirkt in seiner aufrichtigen Schönheit sehr ergreifend. Kent Naganos Aufnahme von 1992 bringt die Mischung aus religiöser Inbrunst und avancierter Geste mit der gebotenen himmlischen Süße aber ohne Süßlichkeit zur Geltung (Erato/Warner).

Zu meinen Favoriten des umfangreichen Orgelwerks gehört der meist himmlisch entrückte weihnachtliche Orgelzyklus La Nativité du Seigneur (1936; mit Olivier Latry an der Orgel von Notre Dame. Latrys Gesamteinspielung des Orgelwerks ist auch sonst die erste Wahl. Label: DG). Herausragend ist auch das ätherische Quatuor pour la fin du temps, das Messiaen 1941 in deutscher Kriegsgefangenschaft komponierte. Trotz der dramatischen Umstände der Entstehung ist diese kammermusikalische Endzeit-Vision für Klarinette, Violine, Cello und Klavier ausgesprochen lichtvoll. In den langsamen Sätzen mit ihren verzückten, in unendlicher Ruhe voranschreitenden Melodien scheint die Zeit wirklich stillzustehen. Die Apokalypse ist bei Messiaen eine endgültige Offenbarung göttlicher Liebe, kein Horroszenario. Gelungen ist die delikat ausbalancierte Einspielung des amerikanischen Tashi-Ensembles. Meine persönliche Lieblingsfassung ist die bei Arts veröffentlichte kontrastreiche Darbietung durch das Ensemble Incanto.
Voller unglaublicher surrealer Erfindungen steckt auch der Klavierzyklus Vingt regards sur l’enfant Jesus (1944). Großartig interpretiert diesen Mount Everest der Klavierliteratur des 20. Jhds. u. a. Richard Osborne, der für alle Zartheit, Verzückung und Vehemenz den richtigen Ton findet. Der Flügel klingt reich wie ein ganzes Orchester (Hyperion). Empfehlenswert sind auch die aus den 1970er stammende Interpretation von Rudolf Serkin (RCA/Sony-BMG) oder der klangvolle Zugriff von Pierre Laurent Aimard (Warner). Für Authentiziät und kristallklaren Klavierklang bürgt die preiswerte Wiederveröffentlichung mit Yvonne Loriod (Erato/Warner).

DER VOGELFÄNGER

Dass Messiaen die Natur, vor allem in Gestalt unzähliger Vogelgesänge, immer der größte Lehrmeister gewesen ist, zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk.
Nicht nur die Erfindungen einer globalen Musikgeschichte von der Gregorianik über indische Rhythmen bis zur seriellen Musik hat er in seiner Musik verschmolzen. Sondern auch Wind, Wellen, Felsen, Nacht und Licht, Farben, Vogelrufe, Sternenzyklen, Atome, Photonen und Galaxien - alles was ist, hat für Messiaen einen musikalischen Klang, lobt und verherrlicht Gott durch sein bloßes Dasein. Es kann komponiert werden und die Geheimnisse des Glaubens verkünden. Eine ausgesprochen katholische (also umfassende) Position, die aber nichts Missionarisches hat, sondern dem anderen mit Respekt begegnet und frei von Dogmatismus ist.
Angesichts der Rolle, die die Vögel und ihre Gesänge in Messiaens Werk spielen, darf man ihn mit Recht als führenden Ornithologen unter den Komponisten bezeichnen. Auf seinen weltweiten Reisen hat er sich mit Bleistift und Notenpapier auf die Jagd begeben, Habitate, Verhalten, Gestalt und natürlich den Gesang studiert und festgehalten. Für Messiaen waren sie die "größten Musiker auf diesem Planeten", denen er alles verdanke, was er über Melodie, Rhythmus, Klangfarbe und Kontrapunkt wisse. Für den Christen Messiaen waren sie „kleine Boten der immateriellen Freude“.
Diesen Boten hat Messiaen u. a. exklusiv in einem abendfüllenden Klavierzyklus, dem Catalogue des oiseaux (vollendet 1958), gehuldigt. Er lässt sie dort nicht nur singen - und wenn man es nicht gehört hat, möchte man kaum glauben, dass ein Klavier solche eigenwillig „authentischen“ Klänge produzieren kann - sondern versetzt sie auch in ihre natürliche Umgebung: das Meer, Felslandschaften, Berge, Wald-, Wiesen- oder Sumpfgebiete. Für all dies erfindet er Klänge und schafft daraus eine mitunter ungemein dramatische Musik. Eine Musik, die sich weder in naturromantischen Vorstellungen ergeht noch mit leichten impressionistischen Pinselstrichen malt. Verschwommenes und irgendwie Gefühliges ist Messiaens Sache gerade nicht.
Ich meine, dass z. B. (nicht nur) der Band „Der Teichrohrsänger“ einige der bewegendsten musikalischen Naturschilderungen überhaupt enthält. Herrlich, wie am Anfang die mitunter unheimlichen Geheimnisse von Nacht und Dunkelheit beschworen werden (mit Tam-Tam-artigen Klängen im tiefen Registern), dann das frühe Morgenlicht (zart aufsteigende violette Akkorde) und schließlich die Mittagshitze über dem See (gespiegelt im flirrenden Gesang des Felschwirrls). Immer wieder kolorieren verschiedene Vögel diese musikalische Welt. Der Star, der Teichrohrsänger, brilliert durch ein konzertantes Duo, bei dem Gershwin gewiss die Ohren gespitzt hätte. Die Rohrdommel lässt Messiaen dagegen "brüllen" und "schreien wie ein abgestochenes Schwein". Von wegen Idylle!
Wenn schließlich im letzten Buch „Der Brachvogel“ seinen Ruf ertönen lässt, ist das von fremdartiger Schönheit, aber auch von großer Melancholie. Der Catalogue ist voller oft komplexer, dann wieder verblüffend einfacher Musik, die wirklich intensiv gehört werden will. Eine Natur-Mediation ohne Sentimentalität, aber voll von kindlichem Staunen und Fantasie, von Licht, aber auch Dunkelheit. Die Natur ist Gottes Geschöpf: herrlich, ehrfurchtgebietend, köstlich, dann wieder rätselhaft, fremd, abweisend, erschreckend.
Bei diesem Werk schätze ich den persönlichen Zugriff von Anatol Urgorski, inzwischen recht günstig auf 3 CDs bei der DG - leider ohne Messiaens hilfreiche Kommentare.

KLINGENDE ARCHITEKTUREN AUS FARBEN UND RHYTHMEN

Die Werke für Ensemble oder Orchester Ende der 1950er und Anfang der 60er Jahre werden in ihrer Vielschichtigkeit komplizierter. Außerdem verstärken sie einen Zug, den Messiaens Musik immer schon aufwies: eine gewisse Statik. Es gibt keine Entwicklung, sondern einzelne Elemente folgen aufeinander, können sich auch - leicht variiert - wiederholen, es gibt aber keine zielgerichtete Veränderung oder Verarbeitung, wie es für die abendländische Musik kennzeichnend ist. Vorbilder für Messiaens Vorgehen findet man eher in asiatischer Musik. Komponieren hieß für ihn in der Hauptsache, ganz unterschiedliche Materialien vom Choralframgent über Vogelgesänge und Tonkomplexe bis hin zu Schlagzeugkaskaden und Klavierkadenzen zusammenzusetzen. Das kann nacheinander in der Art von Refrain und Strophe geschehen. Oder eben simultan, wie in den Sept Haîkaî. Esquisses japonaises (1962), dem Ergebnis einer Japanreise, in der Landschaften, japanische Hofmusik und vor allem Vögel in kurzen Stücken porträtiert werden.
Ähnlich komplex ist das Orchesterstück Couleurs de la Cité céleste (1963), das eines von Messiaens Lieblingstehmen, die "Farben der himmlischen Stadt", behandelt. Herausragend aus dieser Phase ist auch die groß besetzte Chronochromie (1960) - die "Farben der Zeit". Man versteht diese Musik am besten, wenn man weiß, dass Messiaen ein genuiner Synästhetiker war, d. h. in seinem Fall, dass er innerlich Farben sah, wenn er Musik hörte. Tonkomplexe ("Akkorde") nahm er als Farbkomplexe war, und zwar immer gleich. Seine detaillierten Beschreibungen (z. B. "Präriegrün und Beige mit blauen und roten Sprenkeln") kann der Durschnittshörer wohl kaum nachvollziehen, zumal Synästhesien sehr individuell sind. Die rauschhafte Farbigkeit der Musik teilt sich ihm jedoch ohne weiteres mit.
Vor allem bei diesen abstrakteren Stücken gilt der Messiaen-Schüler Pierre Boulez als führender Interpret. Da sitzt jedes noch so komplexe Detail am richtigen Platz und der Ensembleklang ist perfekt austariert. Allerdings würde ich von einem bei Naive erschienen Live-Mitschnitt wegen des unruhigen Klangbildes abraten und eher seine Studioproduktionen der DG empfehlen, die freilich etwas teurer sind.
Persönlich gefallen mir noch besser die farbintensiven und ausdrucksvollen Einspielungen dieser und anderer Orchesterstücke durch Reinbert de Leeuw, die auf einer Doppel-CD gebündelt wurden (Chandos; leider ohne Chronochromie). Hier finden sich auch Oiseaux exotiques (1956), eine von zwei der frühesten Kompositionen Messiaens, die praktisch ausschließlich auf dem Gesang von Vögeln basieren (die andere ist Réveil des oiseaux (1953)). Wie es dem Komponisten gerade dort gelungen ist, aus den sehr unterschiedlichen Natur-Materialien eine harmonisch und rhythmisch organisch wirkende, manchmal geradezu swingende Musik zu machen, bleibt sein Geheimnis. Reveil wurde übrigens auch von Herbert von Karajan aufgeführt und provozierte in Berlin einen Skandal - "Endlich, mein erster Skandal!", soll der Maestro den etwas betretenen Komponisten nach der Aufführung gutgelaunt begrüßt haben.

HÖHEPUNKTE

Ein besondererer Höhepunkt in Messiaens Schaffen ist das Oratorium La Transfiguration de Notre Seigneur Jésus Christ über die Verklärung Christi (1969), das er selbst für eines seiner besten Werke hielt. Ich pflichte ihm gerne bei, das Werk kann einen schon in Rauschzustände versetzten und ich frage mich oft, was Messiaen innerlich empfunden hat, als er es komponierte. La Transfiguration kann man als katholisches Gegenstück zum protestantischen Passionsoratorium verstehen. In 14 Abschnitten (2x7) meditiert der Komponist über die Verklärung Jesu, wie sie vom Evangelisten Matthäus überliefert ist. Der Stoff bot dem Katholiken Messiaen Gelegenheit, sein gesamtes musikalisches Vokabular in den Dienst eines musikalischen, quasi-liturgischen Rituals für den Konzertsaal zu stellen. Im Grunde hat man hier den gesamten Messiaen: den Rhythmiker, den Ornithologen, den Klangfarbenzauberer, den sinnenfrohen Theologen und den religiösen Ekstatiker. Am besten hört man das Werk in der flamboyanten Aufnahme von Antal Dorati (ursprünglich Decca, zurzeit als relativ preiswerte Nachpressung über den amerikanischen Anbieter www.arkivmusic.com erhältlich); sehr gut ist auch die hochpräzise, spannungsvolle Live-Version unter Reinbert de Leeuw (Naive, leider ebenfalls vergriffen aber manchmal noch bei Amazon im Angebot). Etwas weicher im Klangbild und ruhigen Tempi zugeneigt ist die sangliche Interpretation von Sylvian Cambrailing (Hänssler). Unbedingt meiden sollte man dagegen die hallige Wischi-Waschi-Fassung von Myung-Whung Chung (DG).
Großformatig ist auch das Orchesterwerk Des Canyons aux Étoiles... (1974) angelegt. In Des Canyons wird den Naturwundern Amerikas in einer phantastischen Reise von den tiefen Schluchten (Bryce Canyon) über paradiesische Landschaften (Zion Park) bis hin zu den astralen Sphären (Aldebaran) gehuldigt. Mit nur rund 40 Instrumentalisten wirkt das Werk allerdings kaum weniger episch und klangvoll als eines der groß besetzten Werke. Das Ganze hat Messiaen mit den zum Teil sehr exotischen Gesängen und Rufen von über 80 Vögeln aus aller Welt illuminiert. Am liebsten höre ich das Werk unter Reinbert de Leeuw (Naive). Leider ist die Aufnahme gestrichen! Zur Not greife man zu Myung Whung-Chung, dessen Einspielung klanglich luxuriös ist, ohne ganz das Feuer und die Geschlossenheit de Leeuws zu erreichen (DG).

Ein nach wie vor nicht ganz ausgeschöpftes Hörabenteuer ist auch die Franziskus-Oper, Messiaens in siebenjähriger Arbeit entstandenes Riesenwerk (1983), das es trotz der problematischen Mega-Besetzung ins Repertoire großer Opernhäuser geschafft hat. Hier fehlt zum diskographischen Glück der DG-Aufnahme aus Salzburg (4 CDs, Kent Nagano, 1998) nur noch eine gute DVD-Produktion. Vielleicht wird’s ja was damit im Jubeljahr. Das Werk schlägt eine Brücke zwischen dem frühen Messiaen mit seinen klaren Melodien und modalen Harmonien und dem späteren Konstruktivisten. Obschon der Komponist auch hier auf nichts verzichtet, ist das Werk erstaunlich hörerfreundlich, sprich: verständlich.
Es eröffnet die Reihe der späten Werke, zu denen der große Orgelzyklus Livre du Saint Sacrement (1986) und das visionäre elfsätzige Orchesterwerk Éclairs sur l’Au-delà ("Streiflichter über das Jenseits") (1991) gehören, das auf CD unter der Leitung von Sylvian Cambreling eine Darbietung von außergewöhnlicher Ruhe und Schönheit erfährt. Chungs Fassung ist mir bei aller Klangpracht zu kalt (DG), Simon Rattle bleibt zu sehr an der brillanten Oberfläche (EMI). Diese Stücke wirken im Vergleich mit den Kompositionen der 60er und 70er Jahre insgesamt schlichter und auf eine verinnerlichte Weise erhaben. Natürlich findet man auch in ihnen extravagante, äußerst verfeinerte Klanglegierungen und wiederum viele neue Vogelgesänge, darunter in den Éclairs ein umwerfendes orchestrales Solo für den australischen Leierschwanz, der das Himmlische Jerusalem symbolisiert.

Von allen Komponisten des 20. Jahrhunderts hat Messiaen wohl die reichste musikalische Sprache im vollen Sinn des Wortes entwickelt. Dass die musikalische Theorie dabei nie über die musikalische Inspiration, die schöpferische Freiheit und die unmittelbare sinnliche Wirkung triumphierte, unterstreicht die Vitalität dieses originellen Musikers.

Georg Henkel


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