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Einstimmig für BACH - Aktuelles zur Aufführungspraxis

DER AUSSENSEITER ETABLIERT SICH

„Es ist vielmehr eine Verschwendung zu nennen / wenn ein Chor stärcker besetzt ist als es vonnöthen thut […]. Wenn jede Partie oder Stimme mit einem oder auffs höchste zweyen Subjectis versen (die das ihre praestiren / so ist ein Chor gutt bestellt.“
Gotthold Epharaim Scheibel über die Leipziger Neukirchenmusik in »Zufällige Gedanken von der Kirchenmusik«


Jene Thesen, die dem amerikanische Musikwissenschaftler Joshua Rifkin vor über 20 Jahren bei einem Kongress unter den Fachkollegen nichts als Hohn und Spott eingetragen haben, werden inzwischen von einer wachsenden Zahl von Interpreten aus dem akademischen Diskurs in die musikalische Praxis überführt.
Denn wenn Bachs „Chor“ in der Regel tatsächlich mit den Solisten identisch gewesen sein sollte (also meist aus einem Vokalquartett bestand, das nur gelegentlich durch sogenannte Ripienisten verdoppelt wurde) und auch die Orchesterbesetzung der Vokalwerke überwiegend mit nur einem Musiker pro Part rechnete, dann müsste sich das ja auch heute noch bei einer Aufführung bewähren.
Obwohl zahlreiche Indizien die 1:1-Praxis stützen: Einen letzten Beweis gibt es nicht - der überzeugendste „Beweis“ bleibt daher eine gelungene, bewegende Interpretation.
Darum sprechen auch die Vertreter dieses Ansatzes lieber von einer gültigen Alternative zu der seit langem etablierten Vorstellung, Bachs Ideal seien 3 Sänger bzw. 2-3 Instrumentalisten pro Stimme gewesen.



BACH FÜR VEGETARIER?

Die verbesserte Technik auf den alten Instrumenten und zunehmend versiertere Concertisten (so die historische Bezeichnung für die Chor-Solisten) haben seit Rifkins ersten Versuchen zur Akzeptanz der einstimmigen Besetzung bei Musikern wie Publikum beigetragen. Zumal das Ergebnis nicht einfach eine (schlimmstenfalls schwachbrüstige) „Kammer-Fassung“ ist, sondern die Musik in vieler Hinsicht wirklich neu und anders klingt. Ein wirksames Mittel gegen die akustische Abnutzung von Bachs Musik durch Gewöhnung. Schon deshalb lohnt eine intensive Beschäftigung mit der These.
Dafür muss man allerdings auf bewährte Interpretationsklischees verzichten bzw. neue Strategien erarbeiten: schmetternde Trompeten? - nein, zart wie auf einer Blockflöte muss es da mitunter klingen. Bachs Zeitgenossen empfanden das jedoch nicht als Verzicht, sondern als Ausdruck eines verfeinerten Geschmacks.
Dennoch: Wenn man das nicht so im Ohr hat, muss man sich erst einmal „umhören“. Abseits der musikhistorischen Diskussion kochen die Polemiken daher immer mal wieder hoch. „Bach für Vegetarier“ ist da noch eine eher freundliche Äußerung. Während die einstimmige Praxis bei einem erst in jüngerer Zeit wiederentdeckten Bach-Zeitgenossen wie G. F. Telemann kaum irritiert, trifft sie bei Bach auf eine seit dem 19. Jahrhundert gewachsene Aufführungsgeschichte, die mit Riesenbesetzungen und großen Stimmen die Hörgewohnheiten tief geprägt hat. Was hat Nikolaus Harnoncourt für heftige Reaktionen provoziert, als er in den 1960er Jahren die Matthäus-Passion mit kleinem Chor, Knabensolisten und „schräg“ klingenden alten Instrumenten eingespielt hat! Heute ist diese „historisierende“ Besetzung (einmal abgesehen von den Knabenstimmen) meist der Standard.

Konsequent einstimmig: Andrew Parrot

Anfangs hatte ich selbst ziemliche Vorbehalte. Wieder so eine Interpreten-Schrulle. Authentisch ist, wenn’s nur dünn genug klingt? Chor ist schließlich Chor - oder etwa nicht? Rifkins eigene Einspielungen haben mir beim Reinhören auch nicht besonders zugesagt - was aber wahrscheinlich weniger mit der kleinen Besetzung als mit dem relativ verhaltenen Ausdruck zu tun hatte. Womit sich wieder einmal zeigt, dass die gewählten Mittel allein noch nicht die Musik machen, sie müssen auch entsprechend inspiriert gehandhabt werden. Und umgekehrt braucht es beim Hörer die Bereitschaft, sich auch auf ungewohnte Klangbilder einzulassen.

Erst Paul McCreeshs Matthäuspassion aus dem Jahr 2003 hat mich restlos überzeugt und Lust auf mehr gemacht. Und siehe da: Der Plattenmarkt gab und gibt bereits einiges her. Die Einspielungen von Andrew Parrott aus den späten 80ern und frühen 90er Jahren (u. a. H-Moll-Messe, Johannespassion, Magnificat und Osteroratorium, inzwischen preiswert bei Virgin wiederveröffentlicht) sind da fast schon Klassiker.

BACHS „LUTHERISCHE MESSEN“ BWV 233-236

In der Regel greifen vor allem solche Musiker den Ansatz dankbar auf, die sowieso eine kleine kammermusikalische Besetzung pflegen und sich jetzt ein neues Repertoire erobern können. Darunter ist auch das britische Purcell Quartet. Diese 1984 gegründete Formation besteht aus den beiden Violinistinnen Catherine Mackintosch und Catherine Weiß sowie dem Cellisten Richard Boothby und Robert Wooley (Orgel, Cembalo).


Bei Bedarf kann diese Kernbesetzung erweitert werden. Für eine Einspielung von Bachs vier Lutherischen Messen BWV 233-236 treten je nachdem dazu: ein Vokalquartett, eine Viola und ein Kontrabass, außerdem Holzbläser (Flöten, Oboen), Orgel und im Fall von BWV 233 noch zwei Hörner.
Das Unternehmen ist rundum gelungen, sowohl was die musikalische als auch die aufnahmetechnische Seite angeht. Die kleine Besetzung bringt den reich figurierten Vokalsatz Bachs vor allem in den Ensemblesätzen zum Funkeln. Die Musik klingt frisch, kein Detail geht verloren, nichts klingt blutleer.
Gerade die Komplexität der Chöre scheint mir das stärkste Argument für eine kleine Besetzung zu sein. Durchsetzungsfähige und klar geführte Stimmen vorausgesetzt, erzeugt die Dichte des Satzes dann ganz von allein den Eindruck einer sehr viel größeren Besetzung. Bachs Musik lebt offenbar weniger von der Massivität des Klangs, als von seiner Differenzierung: Quantität durch Qualität.

Wie wichtig wird hier aber die Feinjustierung jeder Stimme! Die Sänger/innen verzichten auch im Tutti nicht auf individuellen Ausdruck und realisieren Bachs ausdrucksvolle Stimmführung mit einer Sangesfreude, die einfach mitreißt. Im Kontrast dazu berühren die Arien durch Ruhe und Intimität.
So leuchten, tanzen und swingen Bachs lateinische Gelegenheitswerke für hohe kirchliche Feiertage in ungewohnter Frische. Zu keinem Zeitpunkt denkt man daran, dass es sich um die Zweitverwertung von Kantaten handelt. Gerne würde man diese Musiker aber auch mit den Originalen einmal hören!

OPUS SUMMUM: DIE H-MOLL-MESSE BWV 232

Die „Lutherischen Messen“ Bachs bestehen lediglich aus Kyrie und Gloria. Nur in einem Fall hat Bach ein komplettes Ordinarium vertont. Seine ebenfalls aus einigen älteren Kompositionen gewonnene H-Moll-Messe BWV 232 ist eine Art Opus Summum barocker lateinischer Kirchenmusik geworden: eine Visitenkarte Bachscher Kunst und zugleich ein Zeugnis musikalischer Ökumene. Dessen Rezeption wurde mehr als die der kleineren Messen durch eine romantische Aufführungspraxis geprägt, die es als barocke „Missa Solemnis“ mit riesigem Apparat inszenierte: breit und wuchtig.


Wie anders Cantus Cölln unter Conrad Junghänel: Leicht, fließend, ja schwebend klingt die Musik hier, selbst die strahlenden Trompeten und die Pauken fügen sich sensibel ein. Man kann das sehr schön und innig finden. Oder auch schlicht blass und eintönig. (Also: Wer hier eine Art sakrale Feuerwerksmusik erwartet: Vorsicht!)
Da die Streicher nicht wie sonst den Klang dominieren, erfreut man sich an den wirklich exzellenten Holzbläsern, deren Präsenz der Musik einen besonderen Schimmer verleiht (herausragend eine Soloflöte in Track 8 / SACD 1, vermutlich Kate Clark?). Bach, der Praktiker, hat sich auf das barocke Normorchester (Streicher, Flöten, Oboen, Trompeten, Pauken) beschränkt, um dessen Möglichkeiten dann freilich in vollem Umfang auszuschöpfen. Ungewohnte Klangmischungen und Übergänge lassen in dieser Einspielung selbst an sattsam bekannten Stellen aufhorchen - steht das wirklich so in den Noten?
Die flotten Tempi haben mich eigentlich nur beim Gratias irritiert. Beim federnden Cum sancto Spiritu dagegen hebt die Musik regelrecht ab: Der „barocke Himmel“ öffnet sich.

Aufs Ganze gesehen erreicht die Darbietung nicht ganz jene strukturelle Plastizität und klangliche Ausgewogenheit, die die Einspielungen des Purcell Quartets auszeichnen. Das Klangbild gibt sich insgesamt weicher und räumlicher, die Sänger sind dafür nicht so präsent. Liegt es vielleicht auch daran, dass sie hinter den Instrumenten platziert worden sind? In den Arien und Duetten überzeugen vor allem die Damen, wenn es um Tonschönheit und Intensität geht.
So ist die vom Dirigenten versprochene Deutlichkeit der komplizierten Polyphonie eher relativ und am besten über Kopfhörer zu erleben - oder, falls vorhanden, über SACD Sourround (dafür wurden die Instrumente kreisförmig aufgestellt). Die Faktur der H-Moll-Messe wird z. B. in der recht groß besetzten Einspielung von John Eliot Gardiner (DG Archiv, 1986) sehr viel prägnanter und auch effektvoller gezeichnet. Allerdings muss der Chor dafür selbst bei den schnellen Läufen jede Silbe skandieren, was recht gestelzt wirkt. Da klingt Cantus Cölln viel natürlicher, unangestrengter. Ansonsten empfiehlt sich Gardiners Produktion als chorische Alternative allemal, zumal auch die Klangpracht nicht zu kurz kommt.

Ein weiterer Vergleich: Was Thomas Hengelbrock, der Balthasar-Neumann-Chor und das Freiburger Barockorchester 1996 auf die Silberscheibe gebannt haben, zeichnet sich durch eine Beweglichkeit und Feinsinnigkeit aus, die der von Cantus Cölln nicht nachsteht. Übrigens ließen auch Hengelbrock und Gardiner schon ausgewählte Partien, z. B. das Crucifixus oder Et in terra pax, von hervorragenden Solisten-Ensembles aus ihrem Chor ausführen.
Ehrlich gesagt wäre ich sehr gespannt, ob und wie das Purcell Quartet dieses Werk meistert. Oder Paul McCreesh, der damit aktuell auf Tournee ist. (Es scheint bei der DG keine Pläne zu geben, die H-Moll Messe bzw. auch die Johannespassion mit McCreesh einzuspielen. Schade!)

Da die H-Moll-Messe aus verschiedenen älteren Stücken und Neukomponiertem zusammengefügt wurde, ergeben sich für die Stärke des Chores unterschiedliche Verhältnisse. So ist das einleitende Kyrie fünfstimmig gesetzt, die Wiederholung vierstimmig, das Sanctus erklingt in prachtvoller Sechsstimmigkeit, das Hosanna hingegen benötigt sogar zwei Chöre zu vier Stimmen.
Junghänel entscheidet sich von Anfang an für eine „homogene“ Lösung, wenn er mit vier Sopranen und je zwei Altstimmen, Tenören und Bässen musiziert. Gesungen wird mal im zehnstimmigen Tutti (z. B. Beginn von Kyrie I, Gloria), mal im einfach besetzten Ensemble (z. B. Kyrie II, Crucifixus oder Hosanna-Chöre). Das entspricht der barocken Praxis, die Concertisten gegebenenfalls durch Ripienisten zu verstärken, was vor allem beim Einsatz von Pauken und Trompeten der Klangbalance zugute kommt. Junghänel erläutert seine Entscheidungen leider nicht weiter, dahinter dürften in der Hauptsache praktische Erwägungen stehen. Zumindest die genauen Zahlenverhältnisse und Besetzungen für die einzelnen Sätze kann man dem Booklet entnehmen - sofern man den fehlerhaften, uneinheitlichen Zahlenschlüssel durchschaut, der stark an chemische Formeln erinnert (SSATB x 2 / 2SSATB x 2 / 2S2A2T2B x 2 ...).

Also: Zwei weitere aufschlussreiche Plädoyers für den einstimmigen Bach, die die Möglichkeiten und Grenzen dieser Praxis demonstrieren. Wenn das auf diesem Niveau weiter Schule machen sollte, dürften uns noch einige Entdeckungen bevorstehen.

DIE BESPROCHENEN AUFNAHMEN

Messe in H-Moll BWV 232

Cantus Cölln
Ltg. Konrad Junghänel
Spielzeit: 100:40
Harmonia Mundi / Helikon
2 SACD hybrid (AD 2003) / Best. Nr. HMC 801813.14

Balthasar-Neumann-Chor
Freiburger Barockorchester
Ltg. Thomas Hengelbrock
Spielzeit: 109:15
HMD / BMG Classics
2 CD DDD (AD 1996) / Best. Nr. 05472 77380 2

Monteverdi-Chor
English Baroque Soloists
Ltg. John Eliott Gardiner
Spielzeit: 107:22
Deutsche Grammophon Archiv / Universal Classics
2 CD DDD (AD 1985) / Best. Nr. 415 514-2


Lutherische Messen BWV 233-236

Purcel Quartet u. a.
Vol. I: Messen BWV 235 u. 234 (59:06)
Vol. II: Triosonate BWV 529, Messen BWV 236 u. 233 (64:59)
Chandos / Codaex
CD DDD (AD 1997-1999) / Best. Nr. CHAN 0642 (Vol. I) u. CHAN 0653 (Vol. II)

Georg Henkel


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